Von Thorsten Cmiel
Während Gukesh sich während laufender Turniere grundsätzlich von Social Media fern hält, nutzt Ding Diskussionen auf Social Media zum Entspannen. Dabei bekommt der Chinese möglicherweise manche Diskussionen mit, lässt sich davon aber nicht aus der Ruhe bringen, sagt er. Tatsächlich laufen auf verschiedenen Kanälen manche Diskussionen aus dem Ruder. Kommentatoren und Streamer, selbst mit meinungsstarken Maschinen bewaffnet, kritisieren die Spieler und halten das Niveau für nicht so berauschend. Objektiv betrachtet sieht es anders aus.
Einer, der sich beruflich mit Datenanalysen und deren Interpretation beschäftigt ist Mehmet Ismail, Wirtschaftswissenschaftler und Spieltheoretiker für Norway Chess im Einsatz. Ismail hat über eine Milliarde an Schachzügen einer Analyse unterzogen und seine eigenen Berechnungen angestellt, die über das einfache Interpretieren von Genauigkeitsdaten hinausgehen. Einige seiner spannendsten Erkenntnisse dazu.
Schach Weltmeisterschaften – immer präziser
Die Abbildung von Mehmet Ismail zeigt einen Trend abnehmender Fehlpunkte (zunehmende Genauigkeit) im Laufe der Zeit. Dieser Trend steht im Einklang mit einer unabhängigen Stockfish-Analyse auf Tiefe 20 und mit anderen früheren Studien sowie der allgemeinen Einschätzung führender Großmeister.
Bis zum Match 1921 lag der Durchschnitt der Spieler bei mehr als einem verpassten Punkt pro Spiel, was bedeutet, dass ihre Fehler sich zu mehr als einem bedeutenden Fehler pro Spiel summierten. Im Laufe der Jahre sind die durchschnittlich verpassten Punkte deutlich zurückgegangen.
Schon vor den Schachprogrammen lernten Schachspieler von der vorherigen Generation und die Eröffnungen verbesserten sich. Infolgedessen hat sich die Gesamtgenauigkeit erhöht. Auch Schachprogramme haben zu dieser Steigerung beigetragen.Mehmet Ismail im Dezember 2024.
Beim Schach geht es Ismail zufolge jedoch nicht nur um Präzision, sondern auch darum, kalkulierte Risiken einzugehen. Hierfür hat der Datenexperte den Game Intelligence (GI)-Score entwickelt, der einen Kompromiss zwischen dem Spielen der Hauptvariante und dem Abweichen davon zum Eingehen von gezielten Risiken erfasst. Um die GI-Werte der Spieler zu messen, hat Ismail mehr als eine Milliarde Schachzüge analysiert. Über eine Million dieser Züge wurden von den weltbesten Schachgroßmeistern ausgeführt. Der durchschnittliche menschliche GI-Wert ist auf 100 standardisiert, mit einer Standardabweichung von 15. Dies bedeutet, dass 68 Prozent der Schachspieler einen GI-Wert zwischen 85 und 115 aufweisen.
Player | GI score | Missed points | TPR | Games |
Magnus Carlsen | 160,1 | 0,44 | 2848 | 56 |
Viswanathan Anand | 158,7 | 0,43 | 2790 | 88 |
Vladimir Kramnik | 157,2 | 0,54 | 2803 | 65 |
Garry Kasparov | 157,2 | 0,54 | 2725 | 197 |
Veselin Topalov | 156,4 | 0,52 | 2736 | 23 |
Liren Ding | 156,4 | 0,56 | 2789 | 26 |
Anatoly Karpov | 155,7 | 0,61 | 2725 | 194 |
Jose Raul Capablanca | 153,6 | 0,72 | 48 | |
Robert James Fischer | 153,1 | 0,87 | 2749 | 20 |
Tigran V Petrosian | 150,6 | 0,89 | 69 |
In dieser Tabelle von Mehmet Ismail (Stand: 2024, 12 Partien in Singapur gespielt) sind die Ergebnisse der Weltmeister bei Partien in Schachweltmeisterschaften aufgeführt.
Wie man die Daten interpretieren sollte
Wie die Tabelle zeigt, ist Viswanathan Anand mit einer durchschnittlichen Punktzahl von 0,43 pro Partie der Spieler mit der höchsten Genauigkeit. Magnus Carlsen sticht jedoch mit dem höchsten GI-Wert von 160 heraus, was darauf hindeutet, dass Carlsens Spielstil, der nicht immer dem besten Zug des Computers folgt, dazu neigt, seinen Gegnern im Vergleich zu anderen Spielern mehr Fehler zu entlocken.
WM Match Singapur zwischen Ding Liren und Gukesh
Beide Spieler haben laut der Top-Schachengine Stockfish während des Matches in den ersten 12 Partien auf identischem Niveau gespielt, obwohl es vier entscheidende Partien gab. Ihre durchschnittlichen Fehlpunkte pro Partie lagen bei lediglich 0,4. Das deutet laut Mehmet Ismail darauf hin, dass die Fehler während der Partien insgesamt weniger als einen schwerwiegenden Fehler pro Partie ausmachten. Dieses hohe Maß an Genauigkeit macht das Match zum zweitgenauesten Weltmeisterschaftsmatch der Geschichte, das nur von der legendären Begegnung zwischen Garry Kasparov und Viswanathan Anand im Jahr 1995 übertroffen wird.
Ich kann nicht wirklich glauben, dass es das bisher genaueste Spiel ist.
Herausforderer Gukesh nach der siebten Partie
Vielleicht vor diesem Spiel.
Weltmeister Ding Liren nach der siebten Partie.
Mehmet Ismail
Ich möchte drei kritische Stellungen aus der 11. Partie ansprechen, die entweder kurz vor einem Fehler stehen oder bei denen die Spieler sehr lange (mehr als 15 Minuten) zum Rechnen brauchen.
Zum Beispiel spielte Ding in dem ersten Diagramm in dieser Stellung den Damenzug nach c8. Dies führte zu einem verpassten Punkt von 0,4, was bedeutet, dass Ding, wie oben definiert, von einer fast objektiv ausgeglichenen Stellung in eine Verluststellung geriet. Beachten Sie die Logik, dass 0,5 verpasste Punkte bedeuten, dass man von einer ausgeglichenen zu einer Verluststellung übergeht.
In dem zweiten Diagramm ist die Stellung abgebildet kurz bevor Gukesh laut Engine einen Fehler begeht, indem er Tdb1 zieht. Dies ergibt 0,34 verpasste Punkte, da Weiß zwar einen bedeutenden Vorteil verliert, aber immer noch besser steht. Es handelt sich also um eine geringere verpasste Chance als bei Dings Fehler.
Im dritten Diagramm ist die Stellung vor dem Fehler mit dem Bauernzug auf e7-e6 dargestellt, der mit 0,44 verpassten Punkten erheblich ist.“
Über die Grenzen von Datenanalysen
Was die Analyse der Spielqualität im Schach betrifft, so glaubt Mehmet Ismail, dass nan versuchen sollte, die Qualität des Spiels so genau wie möglich zu messen, denn obwohl Engines viel stärker sind als Menschen, können Standardmethoden wie der Verlust von Hundertstelbauern oder die Genauigkeitsrate zu irreführenden Ergebnissen führen. Zweitens sei die Analyse der Zugqualität zwar nützlich, aber man sollte ihre Grenzen anerkennen.
Ein Beispiel dazu: Ein perfektes Spiel zu spielen und zu gewinnen ist etwas ganz anderes als ein perfektes Spiel zu spielen und ein Unentschieden zu erzielen; in beiden Fällen mag das Spiel perfekt sein, aber im ersten Fall macht der Gegner einen Fehler und im zweiten Fall nicht. Der GI-Score zielt darauf ab, die Unterschiede zwischen den beiden unterschiedlichen Spielsituationen zu erfassen. Es gibt laut Ismail noch viel mehr Möglichkeiten, Schachstatistiken aus menschlicher Sicht verständlicher und interpretierbarer zu machen.
Verwendete Definitionen und Methoden
Verpasste Punkte
Die Werte sind durchschnittliche verpasste Punkte pro Partie. 1,00 und 0,50 verpasste Punkte sind gleichbedeutend mit einem spielverlierenden Fehler in einer Gewinn- bzw. Remisstellung. Im Gegensatz dazu bedeuten 0 verpasste Punkte ein perfektes Spiel. Verpasste Punkte messen die Punkte, die ein Spieler in einem Spiel gemäß der Engine verpasst. Jeder Fehlzug wird anhand der Gewinn-Unentschieden-Verlust-Wahrscheinlichkeit des obersten Engine-Zugs und des tatsächlichen Zugs berechnet.
Wenn man beispielsweise in einer Gewinnstellung einen Fehler macht, der zur Niederlage führt, ist das 1 verpasster Punkt, während ein Fehler in einer Remisstellung 0,5 verpasste Punkte bedeutet. 0 verpasste Punkte bedeutet perfektes Spiel.
Was ist mit Spielintelligenz (GI) gemeint?
Der GI-Wert kombiniert die menschliche Leistung mit der Engine-Analyse und misst die Fähigkeit der Spieler, strategische Risiken einzugehen. Die GI-Punktzahl steigt, wenn man mehr Punkte gewinnt und gegen stärkere Gegner punktet, aber sie sinkt bei Fehlern. Der durchschnittliche GI-Wert eines Schachspielers liegt bei 100. Etwa 68 Prozent der Spieler haben einen GI-Wert zwischen 85 und 115. Die Gewinner von Superturnieren erreichen in der Regel einen GI-Wert von 160 oder mehr.
Methodenhinweise
Jeder Fehler wird anhand der Gewinn-Remis-Verlust-Wahrscheinlichkeit des besten Engine-Zuges und des tatsächlichen Zuges des Spielers berechnet. Mit diesem Verfahren ist es möglich, Probleme bei der Interpretation zu vermeiden, die mit den weit verbreiteten durchschnittlichen Bauernverlust-Metriken einhergehen. Für die Engine bedeutet eine Änderung der Bewertung von +9,0 auf +7,0 oder von +2,0 auf 0,0 einen Verlust von zwei Bauerneinheiten; aus menschlicher und praktischer Sicht gibt es jedoch einen großen Unterschied zwischen den beiden Änderungen. Aus diesem Grund liefert die Arithmetik, z. B. das Addieren und Bilden des Durchschnitts von Verlusten in Hundertstelbauern, aus menschlicher Sicht im Allgemeinen keine aussagekräftigen Ergebnisse.
Ebenso sind Ergebnisse mit prozentualer Genauigkeit möglicherweise nicht intuitiv. Beispielsweise hatten die Spieler im aktuellen WCC sowohl in Partie 2 als auch in Partie 7 eine Genauigkeit von etwa 96 %. Allerdings hatten die Spieler in Partie 2 0,07 Punkte, was ein nahezu perfektes Spiel bedeutet, während sie in Partie 7 1,00 Punkte verfehlten, was einem spielentscheidenden Fehler in einer Gewinnstellung entspricht. Spiel 7 war zwar ein ganz anderes Remis als Spiel 2, da Spiel 7 sehr lange dauerte, was jedoch den Genauigkeitswert verzerrt.
Mehmet Ismail berücksichtigt für seine Analysen alle Züge in einer Partie, beginnend mit dem ersten Zug. Er verzichtet auf das Herausnehmen von Eröffnungszügen. Das begründet Ismail so: Ihm sei erstens kein zuverlässiger Datensatz bekannt, der die ersten Züge außerhalb des Buches enthält, und zweitens würde es ohnehin wenig ändern, da verpasste Punkte eine Statistik auf Spielebene sind (sie wird nicht durch die Zuganzahl geteilt).
Über Mehmet Ismail
Mehmet Ismail ist Dozent für Wirtschaftswissenschaften an der Abteilung für politische Ökonomie des King’s College London. Zu seinem akademischen Hintergrund gehört seine Promotion in Wirtschaftswissenschaften an der Universität Maastricht. Mehmet hat außerdem einen Master in angewandter Mathematik von der Universität Paris 1 Panthéon-Sorbonne und verbrachte ein Semester an der Universität Bielefeld im Rahmen des Erasmus Mundus QEM-Programms.
Neben seiner akademischen Tätigkeit ist Mehmet ein leidenschaftlicher Schachliebhaber und ehemaliger professioneller Backgammon-Spieler. Seine Leidenschaft für Spiele geht weit über das bloße Spielen hinaus; er ist fasziniert von der facettenreichen Welt der Spiele und erforscht alles von theoretischen Grundlagen und praktischen Anwendungen bis hin zu Spieldesign, Fairness und dem Spiel selbst. Mehmet ist für Norway Chess als Experte für Spieltheorie im Einsatz.
Interessierte Leser können auf https://github.com/drmehmetismail/World-Chess-Championships weitere Informationen und Details der Analysen von Mehmet Ismail finden.