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HomeWeltmeisterschaft 2026Grand SwissMatthias Bluebaum der unbekannte Kandidat

Matthias Bluebaum der unbekannte Kandidat

Illustration erstellt mit: NanaBanana.ai.

In Samarkand qualifizierte sich beim Grand Swiss nach Jahrzehnten wieder ein deutscher Schachspieler für das nächste Kandidatenturnier. Matthias ist amtierender und zweifacher europäischer Champion, dennoch hatte ihn niemand auf dem Zettel. Wie lief sein Turnier eigentlich? Was zeichnet sein Schach aus?

Von Thorsten Cmiel

Im Jahr 2023 qualifizierte sich der Inder Vidit Gujrathi mit 28 Jahren erstmals für ein Kandidatenturnier. In Toronto spielte Vidit ein herzzerreißendes Turnier mit vielen Aufs und Abs. Vidit hatte bei seiner Qualifikation im Grand Swiss mit einer Niederlage angefangen. So ähnlich lief es bei Matthias, ebenfalls 28, ebenfalls, er begann mit zwei Remis und schien sich bereits früh aus dem Turnier verabschiedet zu haben. Dann folgten drei Siege in Folge und zwei Runden später gab es noch einen starken Sieg gegen den Inder Arjun Erigaisi. Insgesamt spielte Matthias Bluebaum gegen fünf Supergroßmeister, was ihm am Ende einen guten Gegnerschnitt und die Qualifikation unter drei punktgleichen Spielern sicherte.

Turnierverlauf Grand Swiss in Zahlen

Die Elo-Entwicklung von Matthias Bluebaum

Der Deutsche wird durch seine tolle Leistung in Samarkand 22 Punkte zulegen und mit 2693 nur sieben Zähler unter der virtuellen Schallgrenze von 2700 Punkten stehen – die höchste Wertzahl, die der junge Mann aus Lemgo je aufwies. Bei 2700 liegt die inoffizielle Grenze zum Supergroßmeister und die absolute Elite beginnt, zumindest in der Welt der Schachspieler, die von Zahlen und Vergleichen dominiert wird.

Auf Matthias vorbereiten

Es gab vor vier Jahren eine grundsätzliche Kritik an Matthias Bluebaum, der mit seinem Repertoire zu eng aufgestellt sei, um in die Weltklasse aufzusteigen. Bluebaum sei zudem „kein starker Spieler“, untalentiert hieß es von einem Ex-Deutschen, der wohl etwas zu pointiert argumentierte. Matthias scheint durchaus Humor zu haben und nannte seinen Twitch-Account passend zur Schmähkritik „KeinSehrStarkerSpieler„.

Schauen wir dennoch zumindest grob hin, wie es mit dem Eröffnungsrepertoire von Matthias aussieht. Das ist insofern spannend als man die Partien in Samarkand mit diesen Erkenntnissen abgleichen kann und sieht wie die Vorbereitungssituation für seine Gegner war. Der Verlauf könnte die Frage beantworten, ob das solide Eröffnungsrepertoire diesmal ein so großer Nachteil war. Matthias Bluebaum hat zudem weder Trainer noch Sekundanten. Das ist wegen der fehlenden Unterstützung in Deutschland keine Seltenheit bei Spitzenspielern, die nicht Vincent Keymer heißen und fehlende finanzielle Möglichkeiten sind ein ernsthaftes Argument, nicht mehr in der Eröffnungsarbeit leisten zu können.

Weißrepertoire

Matthias Bluebaum spielt ausschließlich geschlossene Systeme. Den Damenbauer zwei Felder vorzuziehen ist sein bevorzugter Start in die Partie. Das erleichtert Gegnern die Vorbereitung. Auf der anderen Seite kennt Matthias seine Systeme sehr gut. Ein Großteil der Partien waren zuletzt Blitzpartien, dabei ist bei einer konkreten Vorbereitung zu prüfen, ob er bei den Titled Tuesdays beispielsweise oft experimentiert.

Schwarz gegen 1.e2 – e4

Die Gegner von Matthias müssen sich keine Sorge machen, auf einen Sizilianer (1…c5) zu treffen. Die Hauptwaffe von Bluebaum ist die französische Verteidigung. Caro Kann ist eine halboffene Alternative und gelegentlich zieht er seinen e-Bauern zwei Felder vor.

Schwarz gegen 1.d2 – d4

Auch gegen den Damenbauern setzt Matthias auf ein recht enges Repertoire. Neben Nimzoindisch muss man bei ihm auch mit Ragozin rechnen.

Stilreport nach Chessbase

Seit der neuesten Version (18) des führenden Datenbankprogramms der gepflegten Schachanalyse gibt es dort eine Stilanalyse. Ich bin skeptisch, dass dies eine Hilfe ist, aber zur Ersteinschätzung der signifikanten Eigenschaften von Spielern bietet das Tool einen guten ersten Überblick. Ich hatte eine Erwartungshaltung zu den Partien von Matthias und Vincent, den ich zum Vergleich heranziehen möchte. Hier die Ergebnisse.

Ich schätze beide deutsche Topspieler als positionelle Spieler ein, die mit Weiß geschlossene Stellungsstrukturen bevorzugen. Das wird deutlich durch die recht geringen Werte bei der Angriffslust. Bemerkenswert ist aus meiner Sicht, dass Vincent deutlich mehr Risikobereitschaft zu haben scheint – in objektiver Betrachtung – diesen Eindruck vermittelte auch das Turnier in Samarkand. Matthias wurde 2015 mit 18 Jahren zum Großmeister ernannt und seine erste GM-Norm stammt aus dem Jahr 2013. Vincent Keymer ist seit 2020 Schachgroßmeister, er schaffte den Titel etwas früher.


Turnierstart – zwei ereignislose Remis

Die beiden ersten Partien sind alles was man am modernen Schach kritisieren kann. Beide Spieler waren lange in der Vorbereitung und nicht einmal eine Ungenauigkeit unterlief den Großmeistern. Die verbrauchte Bedenkzeit beider Spieler in beiden Partien war recht gering und jeweils unter einer Stunde. Mit Weiß hatte Matthias mit dem Königsspringer begonnen und in der zweiten Partie Caro-Kann gespielt.

Die Explosion – drei Siege in Folge

Zunächst folgte eine schicke und fehlerlose Positionspartie von Matthias, der gegen seinen Gegner, den norwegischen Großmeister Jon Ludvig Hammer, nach dessen fehlerhaftem Spiel einfach Material einsammelte und gewann. In der vierten Runde spielte Matthias gegen einen chilenischen Großmeister und der Verlauf war ähnlich und zunächst ein positioneller Häuserkampf. Der deutsche Spieler verspielte in Gewinnstellung durch ein grobes Versehen im 35. Zug (Läufer zieht nach c7) seinen Vorteil einmalig, bekam eine zweite Chance und gewann erneut verdient. Das Meisterstück in der ersten Turnierhälfte gelang Matthias in seiner Partie gegen die indischen Ausnahmegroßmeister Praggnanandhaa, Pragg. Die Partie wurde entschieden durch einen groben Fehler des Inders, während Bluebaum erneut fehlerfrei agierte. Eine ganz starke Leistung.


Wie Matthias gegen Pragg gewann

Die größte Schwäche des Inders Praggnanandhaa ist seine schlechte Zeiteinteilung. In der Partie gegen Matthias waren vergleichsweise gar keine so schwierigen Probleme zu lösen. Im entscheidenden Moment allerdings wären wenige Minuten sicherlich hilfreich gewesen.


Die entscheidende Situation in dieser Partie ist erreicht. Wie sollte Pragg mit Schwarz das Problem lösen, dass sein b-Bauer schwer unter Beschuss steht? Der Inder hatte noch etwas mehr als anderthalb Minuten auf der Uhr und findet überraschend nicht die beste Fortsetzung.

Remis vor dem Ruhetag

Die Partie der sechsten Runde ähnelte vom Verlauf und von der Partieanlage her den ersten zwei Runden. Beide Spieler spielten laut Rechenknecht fast optimales Schach und die Partie endete nach 30 Zügen mit Remis.

Sieg gegen Erigaisi – Zweites Meisterstück

Die Partie gegen den zweiten Top-Inder, der gegen Matthias Bluebaum gewinnen wollte, war eine weiteres Gesamtkunstwerk, das Renier Castellano für LiChess, die technologisch führende Schachplattform, ausführlich analysiert hat. Mehr seiner Analysen finden sich hier.

Hinweis: Falls kein Diagramm angezeigt wird, handelt es sich um ein Popup-Diagramm, das man durch klicken auf die Notation aktivieren kann. Zudem können die Partieanalysen einfach durch Klicken auf einen Button unter dem Diagramm heruntergeladen werden.


Vorsprung halten

Es folgte zunächst eine weitere ereignislose Weißpartie gegen Nihal Sarin, der ebenfalls grandios aufspielte in Samarkand. Beide Spieler versuchten wenig und folgten ausgetreten Pfaden. Man war sich irgendwann offenbar handelseinig, aber die Reklamation dreimaliger Stellungswiederholung erfolgte etwas später als notwendig.

Ein Malheur kostet Vincent die Qualifikation

Ein Großmeister der Worte beschreibt die entscheidende Situation vor dem Fehler für die Wochenzeitung „Die Zeit“ so:

Blübaum sah die Niederlage gegen Keymer kommen. Aber er spielte weiter, zäh, Zug um Zug. Zähigkeit ist die zweitwichtigste Eigenschaft an der Spitze. Keymer könnte gleich mit dem Turm ziehen, um einen weiteren Bauern zu gewinnen, und das wär’s dann. Da erkennt Blübaum: Wenn Keymer den Turm zieht, gibt es eine kleine, giftige Kombination, einen letzten Trick. Aber Keymer würde das sehen, keine Frage.

(Ulrich Stock in: Die Zeit vom 16. September 2025)


Das ist die Stellung, die Ulrich Stock in der obigen Passage beschreibt. Was passiert nach dem weißen Zug mit dem Turm nach h7, den Stock oben beschreibt?

Die entscheidende Situation ist ebenfalls in dem Rundenbericht zur zehnten Runde ausführlich beschrieben (Klick auf das Bild öffnet den Text).

Die Finalpartie gegen Alireza Firouzja

Die Ausgangslage stellte sich so dar: Matthias Bluebaum hatte von allen fünf Spielern mit sieben Punkten (+4) die beste Wertung. Es gab zwar noch einen Spieler (Mishra Abhimanyu aus den USA), der bei einem Remis durch einen Sieg noch vorbeiziehen konnte, der hatte aber Schwarz und spielte gegen einen auf dem Papier stärkeren Gegner (Vidit Gujrathi aus Indien). Matthias würde also genau das tun, was er am besten kann. Solide Schach spielen. Die anderen Spieler mussten auf Gewinn spielen. Das gelang allerdings nur dem Niederländer Anish Giri gegen den US-Großmeister Hans Niemann. Vincent musste mit Schwarz gegen den Inder Arjun Erigaisi ran.

Der Verlauf war erwartbar. Der Wahlfranzose Firouzja versuchte Verschärfungen, kam aber gegen den soliden deutschen Großmeister nicht voran. Als deren Partie mit Remis beendet war, stand ein deutscher Spieler im Kandidatenfinale. Die Frage war nur noch wer. Vincent verpasste auch in dieser Partie seine Chancen und der Rest ist Geschichte. Nach 34 Jahren folgt endlich wieder ein deutscher Schachgroßmeister den Spuren des in diesem Jahr verstorbenen Robert Hübner (1948 – 2025). Es ist Matthias Bluebaum.

Bei der Siegerehrung kam Alireza Firouzja, der das Turnier als Dritter beendete, nicht vorbei. Eine schlechte Angewohnheit unter manchen Spitzenspielern, die mit Preisgeldabzug geahndet wird. Matthias, Vincent und Alireza teilen auf den Plätzen zwei bis vier die Geldpreise und bekommen etwas mehr als 62 Tausend US-Dollar. Alireza dürften laut Regularien standardmäßig zehn Prozent davon abgezogen werden.

Qualitätsbewertung des Spiels nach Mehmet Ismail

Beim Schach geht es Mehmet Ismail zufolge nicht nur um Präzision, sondern auch darum, kalkulierte Risiken einzugehen. Hierfür hat der Datenexperte den Game Intelligence (GI)-Score entwickelt, der einen Kompromiss zwischen dem Spielen der Hauptvariante und dem Abweichen davon zum Eingehen von gezielten Risiken erfasst.

Ergebnis Fehleranalyse im Turnier

Bei recht typischer Sensitivitätseinstellung der Engine kritisiert Stockfisch 17 einen groben Fehler, einen Fehler und wenige Ungenauigkeiten im Spiel von Matthias Bluebaum im gesamten Turnier. Das ist eine Folge von guter Vorbereitung und Kenntnis des eigenen Eröffnungsrepertoires. Fünf der von Bluebaum gespielten Partien weisen von beiden Spielern keine Fehler auf – in Enginebewertung. Matthias hat im Turnier keine Partie verloren und stand nur einmal auf Verlust, nachdem er insgesamt drei ungenaue Züge gegen Vincent gespielt hatte. Diese sehr guten Werte von Matthias Bluebaum über das gesamte Turnier sind für Spieler des Typs Matthias Bluebaum keine Überraschung und das entspricht auch der im Stilreport erwarteten Herangehensweise. Dass der Deutsche sich gegen sehr starke Großmeister (2700+) mit +2 (aus fünf) sehr stabil zeigte, spricht für die Spielweise des Deutschen, der seine Gegnern vor die unangenehme Aufgabe soliden Spiels stellt und daher nur schwer zu besiegen ist.

Wahrscheinliche Geschichte eines Fotos

Hier erfährt Anish Giri, dass Matthias Bluebaum weder Coach noch Trainer hat. Giri realisiert wie viel Geld er in Sekundanten und Trainer in seiner Karriere bereits investiert hat und ist offensichtlich erstaunt.

Matthias Bluebaum im Gespräch

Nach dem Turnier gab Matthias Chessbase India ein kurzes Interview.

Eine deutsche Transkription des Gesprächs findet sich in den Perlen vom Bodensee.

Matthias Blübaum bei Wikipedia.

Fotos aus Samarkand: Michal Walusza, FIDE Chess.

Hinweis des Autors

Ich habe mich entschlossen Matthias Bluebaum zu schreiben, obwohl er in Deutschland und vermutlich auch in seinem Reisepass eine etwas andere Schreibweise seines Namens führt – Blübaum – also einem Buchstaben („ü“), den nicht jede Sprache und Tastatur kennt. Der letzte deutsche Kandidat Robert Hübner hatte auch diesen seltenen Buchstaben in seinem Namen. Vermutlich ist in der Vergangenheit irgendwann bei den Blühbaums ein „h“ im Namen der Familie verloren gegangen. Schade, dann wäre der Name gleichbedeutend mit einem blühenden Baum, das sind Gehölze, die Blüten tragen und oft besonders farbenfroh sind. Buchstaben hin oder her: Die deutsche Schachöffentlichkeit dürstet jedenfalls nach etwas mehr Farbe in der Szene und die könnte jetzt auch ohne „h“ ins Spiel kommen.



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