Foto: Maria Emelianova Chess.com (FIDE Chess)
Von Thorsten Cmiel
Nach dem Ruhetag ändert sich ein wesentliches Detail der letzten zwei Wochen, noch vor dem Beginn der Partie. Diesmal steigt Gukesh als Erster aus dem Fahrstuhl. In einer Pressekonferenz hatte Ding gesagt, er habe gelernt, dass er immer zuerst im Spielbereich des Hotels ankomme. Beide kommen jeden Tag mit dem Fahrstuhl im Spielbereich an. Gukesh wird heute begleitet von seinem Vater und seinem Sekundanten Gajewski. Gukesh stürmt an den wartenden Fans vorbei. Er scheint bereits im Tunnel zu sein, fokussiert auf die anstehende Partie. Kurz danach steigt Ding Liren aus dem Fahrstuhl.
Heute ist die Schachwelt früh dran, eigentlich sogar zu früh. Drei Minuten, so registriert es ein heute prämierter Kollege neben mir. Ob es daran liegt, dass die Vorstellung des eigenen Präsidenten zu kurz ausfällt? Normalerweise listet Maurice Ashley minutenlang die Verdienste der Ehrengäste auf und langweilt Zuschauer und Spieler. Heute nicht. Der FIDE-Präsident Arkady Dvorkovich zieht Gukesh’s Königsspringer nach f3 und lächelt in die Kameras. Der Inder will so nicht spielen, nimmt den Zug schnell zurück und startet wie in der ersten Partie mit seinem Königsbauern. Ding bleibt der französischen Verteidigung treu. Im siebten Zug weicht Gukesh als Erster von der Ersten ab, er zieht diesmal seinen a-Bauern ein Feld nach vorne. Es sind vor allem Randbauernzüge, die wir von beiden Seiten in diesem Match immer wieder gesehen haben und die den Unterschied machen sollen.
Ding wirkt überrascht. Schwarz steht vor einer grundlegenden Entscheidung: Er kann am Damenflügel spielen, indem er seinen a-Bauern zwei Felder vorschiebt beispielsweise und am Damenflügel expandiert. Ein anderer typischer Hebel besteht in frühem f7-f6 – das führt allerdings meist zu großen Verwicklungen. Zehn Minuten sind rum und die Fotografen verlassen wie immer den Cube. Ding grübelt noch an seiner Antwort. Dabei ist die Spielweise von Weiß eine bekannte Herangehensweise für das weiße Spiel. Tatsächlich hat sich das Team des Inders erneut eine kleine Gemeinheit ausgedacht. In der so genannten Vorzugsvariante ist der Zug 6.a3 viel bekannter. In der Klassischen Variante, die heute auf dem Brett steht, befindet sich ein schwarzer Springer auf d7 und das ist keine Kleinigkeit. Der Weltmeister muss sich am Brett die Unterschiede und Gemeinsamkeiten erarbeiten.
Gukesh hat es sich derweil in seinem Sitzmöbel eingerichtet. Er lehnt zurück, entspannt sich. Die Augen sind geschlossen. Während der Inder sein Jackett immer anbehält und unter dem Hemd ein T-Shirt anhat, zieht Ding sein Jackett meist früh aus. Genauso heute, sogar vor dem ersten Zug. Ist dem einen kalt und dem anderen warm? Dann spielt Ding einen bekannten Läuferzug nach e7. Gukesh antwortet sofort mit seinem Läufer, den er nach e3 stellt, das ist überraschenderweise neu an dieser Stelle, zumindest im Meisterschach. Nach acht Zügen besitzt der Inder erneut einen ordentlichen Vorteil auf der Schachuhr und hat selbst erst 55 Sekunden verbraucht. Das Spielszenario kennen wir schon.
Einige Züge später wirkt das Spiel des Herausforderers überhastet. Nach nicht einmal zweieinhalb Minuten spielt Gukesh nicht den natürlichen Zug in diesem Stellungstyp. Aggressiv agierende Weißspieler würden hier ohne zu zögern die eigene Dame nach g4 ziehen. Das ist Standard in vielen ähnlichen Situationen. Danach muss man allerdings noch einige Züge des Gegners durchdenken. Das Damenschach auf a5 beispielsweise oder das Schlagen mit dem Springer auf d4. Danach beispielsweise ginge es weiter mit der langen Rochade und Schwarz stünde bereits sehr schlecht. Zu kritisieren an dieser Stelle ist nicht die Entscheidung als solche, sondern erneut zeigt sich der Inder in einer wichtigen Spielphase spieltaktisch nicht auf der Höhe. Die Situation erinnert an die elfte Partie in der Gukesh ebenfalls eine Stunde mehr auf der Uhr hatte und seinen ordentlichen Stellungsvorteil nach guter Eröffnungswahl mit zwei ungenauen Zügen verspielte.
Ich habe kurz gesehen, dass der Damenzug nach g4 möglich war, aber ich dachte nicht, dass es sehr stark ist. Ich dachte, dass das was ich gespielt habe, auch sehr gut ist.
Gukesh in der Pressekonferenz später zu der Situation.
Ein bemerkenswerter Moment. Inzwischen ist der Bedenkzeitverbrauch wieder balanciert. Mit seinem letzten Zug, Gukesh hatte seine Dame von d1 nach f3 gezogen und greift den ungedeckten Springer auf c6 an, opfert der Inder den Bauern auf d4. In dieser Phase wirkt Ding Liren ein wenig nervös und rückt ständig auf seinem Bürostuhl hin und her. Die Unterarme bieten ihm ausreichend Halt und liegen auf dem Tisch in dieser Phase. Nach drei Minuten entscheidet sich Ding Liren dagegen zuzugreifen und deckt stattdessen den Springer mit der Dame von e8 aus. So richtig klar ist nicht warum das passiert. Vielleicht spielt hier Psychologie eine Rolle. Der Herausforderer tauscht den Springer gegen den gegnerischen Läufer und muss sich jetzt um den Bauern auf f4 keine Sorgen mehr machen. Der Chinese spielt etwas schneller in dieser Phase, vielleicht zu schnell.
Zuletzt hatte Ding Liren seinen Springer nach e7 zurück gezogen und so das Feld d5 besser kontrolliert. Er will auf den weißen Felder seinen Läufer via b7 ins Spiel bringen. Allerdings hat der Inder in diesem Moment eine Überraschung für seinen Gegner parat. Gukesh aktivierte seinen Läufer und zog diesen nach f4. Ding hatte diesen Zug nicht vorhergesehen und gerät in der Folge in ernsthafte Probleme mit der Koordination seiner Kräfte. Der Zug mit dem Läufer ist möglich weil der schwarze Turm die ungedeckte Figur nicht schlagen sollte, da Weiß danach mit seiner Dame von e5 beide Türme attackieren würde.
Der kritische Moment in dieser Partie ist erreicht. Hier sollte der Weltmeister die Dame für zwei Türme auf e1 geben, objektiv gesprochen. Nach dem doppelten Tauch auf der e-Linie und dem Rückzug des Turmes nach e8 kann Weiß zwar seinen Springer nach e4 ziehen, aber das reicht überraschend nicht. Ding hätte danach einen mirakulösen Zug finden müssen. Die Entscheidung von Ding Liren darauf zu verzichten ist also durchaus verständlich, insbesondere angesichts wenig restlicher Bedenkzeit.
(Eventualstellung). In der Vorausberechnung musste Schwarz an dieser Stelle den nicht ganz intuitiven Zug mit dem b-Turm nach e7 finden, um nach der logischen Antwort, der Springer zieht nach d6 und attackiert Turm und Läufer gleichzeitig, verfolgt der Turm die gegnerische Dame und diese seltene Form einer Schaukel hält die schwarze Stellung zusammen. Die Verteidigungsaufgabe war also extrem schwierig. Ding entscheidet sich in der Stellung des letzten Diagramms nach 19 Sekunden für den Zug mit der Dame nach f7. Acht Minuten bleiben dem Chinesen noch für zehn Züge. Jetzt ist Gukesh dran und hat die größte Chance in dieser Partie.
Der Inder sollte hier zunächst auf e8 die Türme tauschen und dann mit seinem Springer nach e4 ziehen. Schwarz hat danach keine ausreichende Verteidigung mehr. Gukesh konnte die Details aber nicht ausarbeiten, oder war zu nachlässig, jedenfalls zog er seinen Springer sofort nach e4 und der Weltmeister reagierte mit dem Zug seines Turmes nach f8. Die Idee war es nach dem unwillkürlichen Springerzug nach d6 mit seinem Turm die ungedeckte weiße Dame auf c5 mit dem Zug von c7 anzugreifen. Dieser sehr starke Verteidigungszug war dem Inder entgangen.
Zum Kontrollzug haben die Spieler zum letzten Mal in dieser Partie eine Stellung mit einer interessanten Entscheidung auf dem Brett. Ding kann hier im vierzigsten Zug mit seiner Dame auf c1 ein Schach geben und nach dem erzwungen Königsmarsch nach f2 sogar mit Schach den Bauern b2 vertilgen. Gukesh würde seinen König nach g3 ziehen und Ding muss einen Zug finden. Zum einen ist der Läufer auf d7 bedroht und zum anderen steht der Turm auf f8 ungedeckt. Ding ist unschlüssig, soll er oder soll er nicht zuschlagen? Vermutlich sieht er nicht, dass er danach seinen Läufer nach f5 ziehen kann und sein Gegner keinen gefährlichen Abzug mit seinem Turm zur Verfügung hat. Am Schluss entscheidet Pragmatismus. An der Stellungsbeurteilung hätte auch eine andere Spielweise nichts geändert.
Die Spieler lassen noch 29 weiter Züge folgen, aber es gibt keinen weiteren Aufreger an diesem Abend. Die Pressekonferenz im Nebenhotel ist eher geprägt von dem Blick nach vorne. Manche stellen die gleichen gefühligen Fragen wie an den Tagen zuvor. Gelacht wird kaum heute. Der Druck auf die Spieler ist enorm hoch und steigt in der letzten klassischen Partie erneut an. Tatsächlich hatte die erhöhte Anspannung Einfluss auf die Qualität der vorletzten Partie gehabt. Die Dreizehnte schneidet qualitativ etwas schwächer ab an diesem Mittwoch in Singapur. Donnerstag haben wir einen Weltmeister oder am Freitag einen Stichkampf. Großartig.
Die Fotografin Maria Emelianova (PhotoChess) kommentiert ihr eigenes Foto auf X vormals Twitter mit der Frage, wer von den drei Personen auf dem Foto wohl am nächsten Tag nicht um die Schachweltmeisterschaft spielen müsse.
Die Diagramme stammen von Mehmet Ismail und dokumentieren seine Bewertungslogik: Im ersten Diagramm schlug Gukesh im fünfundzwanzigsten Zug auf e7. Das war überhastet. Der Inder wollte den Zug des Springers nach d5 nicht zulassen. Aber er konnte das genauso mit dem Zug des f-Turmes nach e1 dauerhaft unterbinden. Der Königszug nach f7 unterbricht die Deckung des Turmes durch die Dame, bringt also nichts. Gleichzeitig droht bei nur einfach gedecktem Turm auf e8 kräftig der Vormarsch des weißen d-Bauern. Im zweiten Diagramm sollte Schwarz seine Dame gegen zwei Türme tauschen. Das wird er allerdings nur tun, wenn er den Gewinn des Gegners im nächsten Diagramm vorher sieht. Die 0.47 Punkte, die beiden Spielern als Malus angerechnet werden in der Logik von Mehmet Ismail sind also fair verteilt. (Anmerkung: In einer späteren Version der Berechnungen gibt Ismail leicht korrigierte Werte zu den obigen Diagrammen an. Die ändern aber an der Interpretation hier nichts.)
Ismail weist auf X vormals Twitter darauf hin, dass die Genauigkeit leicht ansteigt, wenn die Spieler wie hier ein gleichstehendes Endspiel ausspielen. Diese Rate lag für die 13. Partie des Matches bei 98 Prozent. Die verpassten Punkte der Spieler legen heute eine andere Interpretation nahe: „Jeder Spieler hatte 1,20 verpasste Punkte, was bedeutet, dass die verpassten Punkte mehr als einen spielverlierenden Fehler in einer Gewinnstellung ausmachen.“
Fotos: Alle nicht speziell gekennzeichneten Fotos dieses Beitrages sind von Eric Rosen für FIDE Chess.