Foto: Eng Shin An (FIDE Chess)
Von Thorsten Cmiel
Ein schrecklicher Fehler von Ding Liren beendet die Schachweltmeisterschaft 2024 zugunsten des 18-jährigen Inders Gukesh. Der ist überwältigt von seinen Gefühlen nach drei anstrengenden Wochen in Singapur mit vielen Aufs und Abs. In der abschließenden Pressekonferenz zeigt der neue Weltmeister Größe als tadelloser Sportler. Ein wichtiger Tag für Indien und die gesamte Schachwelt.
Schach kann brutal sein. Sehr sogar. Nach vier Stunden und fünfundfünfzig Zügen unterläuft dem Chinesen und Titelverteidiger Ding Liren ein grober Fehler, der nur durch die spezielle Drucksituation eines WM-Kampfes und mentale Erschöpfung zu erklären ist. Ein Blackout. Der Chinese gibt seinem Gegner die Chance seines Lebens und der bemerkt es nicht sofort. Der Inder hat noch eine Stunde und zehn Minuten, kann sich also Zeit nehmen für den wichtigsten Zug seiner Karriere bisher.
Zeitgleich im Studio von Chessbase India bemerken die Moderatoren zunächst nichts und plaudern vor sich hin, spannend war es nicht mehr. Dann springen einige Zuschauer auf, es wird laut, irgendwer hat vermutlich die Bewertung auf einem Bildschirm gesehen. Zeitgleich schrecken in der Fanzone im Spielhotel auf Sentosa Island die Zuschauer in Singapur auf. Der Vater von Gukesh läuft schon einige Zeit im Zugangsbereich zur Fanzone hin und her. Dr. Rajinikanth ist nervöser als sein Sohn, das ist immer so wenn der Junge spielt. Plötzlich erscheint Grzegorz Gajewski, von Gukesh Gaju genannt, der Sekundant des Inders, ebenfalls im Zugang zum Pressezentrum. Er hat gesehen was alle an den Bildschirmen gesehen haben und informiert Rajinikanth. Der scheint es noch nicht zu glauben. Dann kommt Nitin Narang angerannt, der Präsident der All India Chess Federation (AICF) umarmt Gukesh Vater. Der Lärmpegel steigt im Equarius Hotel. Gukesh richtet sich im Stuhl etwas auf, er weitet die Augen und erkennt seine Chance.
Als er den Turm f2 spielte, habe ich das nicht bemerkt. Ich meine, ich wollte fast Turm b3 spielen, aber dann sah ich, dass dieser Läufer tatsächlich gefangen wird. Und nach König e1 habe ich König e5 im Bauernendspiel, das einfach zu gewinnen ist. Ich meine, als ich das erkannte, war das wahrscheinlich der beste Moment meines Lebens.
Gukesh über den historischen Moment.
Die Livekameras zeigen beide Spieler, aufgenommen von sehr kleinen hochauflösenden Kameras, die in die Spieltischen integriert sind. Ding erkennt seinen Fehler, schaut entsetzt.
Ich war total schockiert, als ich merkte, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Der erste Gesichtsausdruck zeigt, dass er sehr glücklich und aufgeregt ist, und mir wurde klar, dass ich einen Fehler gemacht hatte.Ding Liren als er Gukesh’s Reaktion bemerkt.
Gukesh bleibt cool. Ruckelt auf seinem Gamingstuhl hin und her. Die Zuschauer in Mumbai sehen die Reaktion. Sagar Shah, Gründer von Chessbase India, wird immer aufgeregter. Er sieht es, er sieht es, ruft Sagar in den Raum. Der Jubel steigert sich noch. Dann eine Geste von Gukesh, der presst die flachen Hände zusammen, es sieht aus als würde er beten. Sagar ist sicher, Gukesh wird Weltmeister, heute noch. Die Co-Moderatorin Tania Sachdev ruft mehrmals, das ist der Moment. Ding schaut für einen Moment zu seinem Gegner. Er weiß, es ist vorbei.
Gukesh kann die Türme tauschen und die unglückliche Postierung des gegnerischen Läufers ausnutzen und diesen ebenfalls tauschen, indem er seinen Läufer auf d5 tauscht. Gukesh atmet kurz durch, seine Hände sind zum Gebet gefaltet, scheint es. Er kann sein Glück nicht fassen. In Mumbai wollen ihn die Inder zu seinem Glück anfeuern und rufen Gukesh, Gukesh, Gukesh. Den stört es nicht, er nimmt einen Schluck Wasser aus der Flasche. Ding reagiert erneut, streicht sich mit der rechten Hand durch die Haare. Gukesh trinkt weiter. Nur nichts überstürzen. Er schließt die leere Flasche und bringt sich kurz in Denkerpose. Dann schlägt er auf f2 und spielt den erwarteten Läufertausch. Gukesh steht auf, die Anspannung ist zu groß. Ding tauscht die Läufer und benötigt noch einen kurzen Moment, dann gibt er sich geschlagen.
Gukesh ist von seinen Gefühlen überwältigt. Sein Kindheitstraum geht in Erfüllung. Kurz darauf sammelt sich der Inder wieder und wiederholt sein Ritual. Er baut die Figuren auf, tippt auf den Tisch und zeigt Respekt für das Spiel. Dann macht er eine Art Bekreuzigungsbewegung, rückt seinen Stuhl zurecht und schiebt diesen an den Spieltisch.
Gukesh der Champion
Auf der Pressekonferenz zeigt der Achtzehnjährige was ihn auszeichnet. Er beginnt mit einem Lob für seinen Gegner: „Zunächst möchte ich ein paar Worte über meinen Gegner sagen. Wir alle wissen, wer Ding ist. Er ist seit einigen Jahren einer der besten Spieler der Geschichte. Und zu sehen, wie er sich abmüht und wie sehr er unter Druck stand und wie er in diesem Kampf gekämpft hat. Ich meine, in diesem Kampf zeigt sich, was für ein echter, wahrer Champion er ist. Und egal, wer auch immer sagt, was ist mit Ding? Für mich ist er ein echter Weltmeister…Er hatte offensichtlich während der Partien zu kämpfen. Er war wahrscheinlich körperlich nicht in Bestform, aber er hat in allen Spielen gekämpft. Er hat gekämpft wie ein echter Champion und ja, es tut mir wirklich leid für Ding und sein Team. Ich meine, sie haben eine großartige, Show hingelegt und ich möchte mich wirklich zuerst bei meinem Gegner bedanken. Das wäre nicht dasselbe gewesen ohne meinen Gegner.“
Ein Geheimnis wurde gelüftet: Im Team des Weltmeisters waren die Polen Gregorz Gajewski, Radosław Wojtaszek, Jan-Krzysztof Duda und Jan Klimkowski. Der Inder Pentala Harikrishna und der Deutsche Vincent Keymer gehörten ebenfalls zum Team für Singapur. Über Keymers neuen Job wurde bereits spekuliert als er kürzlich nicht in der Bundesliga antrat. Jetzt gab es die bestmögliche Bestätigung.