Connect with:
HomeAktuellesAnatomie einer komplexen Partie

Anatomie einer komplexen Partie

Von Thorsten Cmiel

In der Schachbundesliga werden viele interessante Partien gespielt. Aufmerksamkeit brachte am ersten Bundesligawochenende 2025 aber vor allem der Auftritt des Exweltmeisters Magnus Carlsen, der inzwischen eine Art Lotterieschach propagiert. Dabei gibt es für Zuschauer viel bemerkenswertere Partien zu beobachten. Übrigens andernorts oft bei freiem Eintritt.

Die Protagonisten dieser Partie sind der indische Großmeister SL* Narayanan und der polnische Großmeister Mateusz Bartel. Die beiden spielten am ersten Brett in Bad Mergentheim für ihre Teams Deggendorf und USV TU Dresden. Wir schauen beiden Akteuren meist abwechselnd über die Schulter. Für den besten Trainingseffekt wird empfohlen, zunächst die Lösungen zu ignorieren und sich stattdessen wie die Spieler durch die Partie durchzukämpfen. Wer will kann sich seine Züge notieren und später mit den Lösungen abgleichen.

* SL steht für Sunilduth Lyna


Stellung 1: Schwarz ist am Zuge

Zu diesem Zeitpunkt hatten beide Spieler bereits viereinhalb Stunden in den Knochen. Weiß hat zuletzt seine Dame nach c6 gezogen und den Turm auf a8 und den Bauern auf e6 gleichzeitig ins Visier genommen. Es gibt hier zwei denkbare Konzepte für Schwarz und hier reicht uns eine Fifty-Fifty-Antwort. Er kann den Turm nach e8 ziehen und dadurch beide Probleme gleichzeitig lösen. Dieser Zug ist allerdings recht passiv gedacht. Schwarz kann alternativ seinen Turm auf die offene Linie nach b8 ziehen und mit dem Turmzug nach b1 selbst auf Gegenspiel hoffen. Was ist besser?


Stellung 2: Weiß ist am Zuge

Der Pole hatte sich nach etwas mehr als vier Minuten für den aktiven Zug nach b8 entschieden. Jetzt ist sein Gegner dran. Dieser war 2022 bei der Schacholympiade noch im ersten indischen Team im Einsatz und hatte zuletzt etwas Rating abgegeben. Er dürfte hier vier bis fünf Züge erwogen und kurz angedacht haben – mit elf Minuten Restzeit. Eine erste schwierige Entscheidung bei knapper Bedenkzeit. Kandidatenzüge waren das Schlagen auf e6 mit Springer oder Dame. Das konnte in Kombination mit dem Schlagen auf e4 mit dem Springer (Läufer) erfolgen und ein prophylaktischer Zug mit dem König nach g2 (gegen den Turmzug nach b1 gerichtet) kam ebenfalls in Betracht.


Stellung 3: Schwarz ist am Zuge

Der indische Großmeister hatte sich für den prophylaktischen Zug mit seinem König entschieden. Jetzt war der Pole wieder dran. Wie soll er weiter fortsetzen? Es gibt hier nur einen sehr guten Zug für den Schwarzspieler. „Simply the Best“ wäre das in meiner Kategorisierung von Aufgaben. Ich hatte bisher darauf verzichtet, die Frage zu stellen, ob irgendwer bisher besser steht oder stand. Diese Frage spielt praktisch in einer komplexen Turnierpartie eine untergeordnete Rolle, bis man die Stellung in technischere Gefilde abwickeln kann und so eventuell eine bessere Einschätzung abgeben kann.


Stellung 4: Weiß ist am Zuge

Bartel hatte sich zuvor für den Springerzug nach g5 entschieden. Jetzt war Narayanan wieder gefragt. Der Inder hatte hier etwa drei logische Kandidaten: Er konnte hier entweder den Läufer f3 nach d1 oder e2 ziehen oder zunächst mit dem Damenzug nach d6 eine Gegendrohung aufstellen. Nimmt man nur diese drei Möglichkeiten in Augenschein, dann hat man hier zwei gute und eine schlechtere Option. Für welchen Zug soll man sich entscheiden?


Stellung 5: Schwarz ist am Zuge.

Narayanan hatte sich für den Läuferzug nach e2 entschieden. Jetzt ist erneut Mateusz Bartel am Zuge und die Frage ist, was man ihm hier empfehlen sollte. Genau genommen gibt es hier wieder einen überragenden und einen guten Zug, alle anderen Versuche sind deutlich schlechter. Diesmal gibt es aber keine Hilfe von der Seitenlinie.


Stellung 6: Weiß ist am Zuge.

Bartel hatte zuletzt seinen Turm nach b1 gezogen. Die schwarzen Figuren kommen offensichtlich immer näher und jetzt ist es die Aufgabe des Weißspielers, einen sehr guten Zug zu finden. Eine weitere Aufgabe vom Typus „Simply the Best“. Manche Schachspieler finden solche eindeutigen Entscheidungen einfacher, aber ist es wirklich einfach den besten Zug zu finden? Hier sollte man seine Entscheidung notieren. Ebenfalls ungestützt durch eine vorgegebene Auswahl.


Stellung 7: Schwarz ist am Zuge

Der Inder hatte zuletzt (Stellung 6) seinen Springer nach d3 gezogen. Hier kann Schwarz auf d4 den Bauern des Gegners schlagen. Aber soll er das überhaupt tun? Hier gab es erneut einen überragenden Zug (Simply the Best), aber ist dieser das Nehmen des weißen Zentralbauern auf d4? Mateusz Bartel hatte bisher recht schnell gespielt und so den zeitlichen Druck auf seinen Gegner aufrecht erhalten. Für eine Antwort in dieser Stellung nahm er sich etwa neun Minuten Zeit und ihm blieben noch etwas mehr als 16 Minuten Restbedenkzeit. Sein Gegner hatte sechs Minuten weniger auf der Uhr. Mein Tipp: Notieren sie diesen Zug und vergleichen sie ihn mit der Lösung später.


Stellung 8: Weiß ist am Zuge

Wir machen es jetzt etwas einfacher und betrachten vier Kandidatenzüge. Beachten sollte man, dass der Inder noch sechs Minuten plus 30 Sekunden pro Zug übrig hatte. Ich schlage daher vier Kandidaten vor. Weiß konnte auf a8 oder c8 ein Schachgebot mit der Dame abgeben, seinen Läufer nach f2 ziehen und um die geschwächten schwarzen Felder kämpfen oder seinen h-Bauern losschicken. Es gibt hier eine klare Hierarchie der Züge, wer mag sollte sich daran versuchen. Aber bitte nicht vergessen: die Uhr tickt.


Stellung 9: Weiß ist erneut am Zuge

In dieser Stellung zog der Inder nach sieben Sekunden. Welche Züge kommen hier in Betracht? Haben sie ebenfalls einen klaren Favoriten? Auch an dieser Stelle gab es einen klaren besten Zug (Simply the Best). Die Spieler hatten in der Partie allerdings ebenfalls keine Hilfe.


Stellung 10: Schwarz ist am Zuge

Wie sollte Schwarz hier fortsetzen? Wir sind inzwischen beim vierundfünfzigsten Zug angekommen. Mateusz Bartel entschied sich nach sechs Minuten und ihm verbleiben danach knapp mehr als elf Minuten Restbedenkzeit, jeweils zuzüglich 30 Sekunden pro Zug (Inkrement).


Stellung 11: Weiß ist am Zuge

Hier gilt es mit Weiß einen sehr starken Zug zu finden. Vielleicht sollten wir uns jetzt erstmals Gedanken machen, wie eigentlich die Stellung zu beurteilen ist. In einer Partie reicht natürlich der beste Zug, aber vielleicht kann man die Stellungsprobleme besser lösen, wenn man eine Idee hat, ob man auf Gewinn oder auf Verlust steht. Diese Frage könnte natürlich eine Falle sein und vom eigentlichen Thema – den besten Zug zu finden – ablenken.


Stellung 12: Weiß ist am Zuge

Hier muss Weiß das potentielle Schachgebot auf f1 berücksichtigen. Oder droht das eventuell gar nicht? Darauf wird man sich aber nicht verständigen wollen mit wenig Bedenkzeit. Daher gibt es drei Züge zur Auswahl: den Läuferzug nach f2, den anderen Läufer nach f5 zu ziehen oder die Dame auf das gleiche Feld. Ihre Wahl.


Stellung 13: Schwarz ist am Zuge

Hier findet der Schwarzspieler eine sehr interessante Ressource auf die der israelische Großmeister Boris Avrukh in den sozialen Medien, bei X, hingewiesen hat. Vermutlich hat der Pole inzwischen begriffen, dass es in den letzten Zügen nicht sonderlich gut für ihn gelaufen ist. Wer hat eine Idee, wie Schwarz hier seine Chancen auf ein Überleben verbessert hat.


Stellung 14: Weiß ist am Zuge

Erneut ist der Weiße gefragt wie er fortsetzen sollte. Der Inder hatte zu dem Zeitpunkt noch 42 Sekunden auf der Uhr und zog nach zehn Sekunden, konnte also etwas Zeit gutmachen. Den Stress kann man nicht simulieren im Training. Daher sollte man etwas milde mit der Analyse mancher Entscheidungen umgehen.


Stellung 15: Schwarz ist am Zuge

Unser letztes Diagramm. Wie würden sie hier fortsetzen. Dieser Zug ist einfacher als die vielen anderen Züge zuvor. Tatsächlich finden die Spieler hier ein gerechtes Ende für eine Partie, die im Verlauf beide Spieler für sich hätten entscheiden können.


Die betrachtete Partiephase

Bevor wir uns die Lösungen und Bewertungen zu den Stellungen objektiviert anschauen, möchte ich darauf hinweisen, dass die betrachtete Partie meines Erachtens hochklassig war. Dass die Bewertungen von emotional kalten Engines gelegentlich eine andere Sprache sprechen, ist kein meiner Meinung nach kein Argument dagegen. Um den Eindruck nicht zu trüben, habe ich auf die Bewertungen der Maschine und eine üppige Zeichenkommentierung verzichtet. Die Faszination einer Schachpartie zeigt sich nicht an der mathematischen Genauigkeit, die in der öffentlichen Diskussion einen zu breiten Raum einnimmt. Engineanalysen sind aus individueller Sicht beim eigenen Verbesserungsprozess ein wichtiges Tool, aber die Wahrheit bei der Bewertung einer Schachpartie erzählen sie nicht. Ich rate hier zur Vorsicht vor dem zu häufigen Konsum von reinen Engineanalysen wie man sie auf Spielplattformen oder in Youtubevideos zu sehen bekommt.


Ein kleiner Hinweis: Bei der automatischen Übersetzung von Schachanalysen in deutscher Sprache entscheiden sich die Maschinen oft für das englische Wort „train“ für Zug statt „move“. Solche Übersetzungsfehler muss man wohl mit Humor hinnehmen.



Share

No comments

Sorry, the comment form is closed at this time.