Titelfoto: Lennart Ootes
Man weiß nicht warum Praggnanandhaa, kurz Pragg, manchmal wüste Varianten spielt wie in der ersten Runde in Wijk aan Zee gegen Nodirbek Abdusattorov und dann folgen plötzlich zwei herausragende Positionspartien gegen den Endspielspezialisten Pentala Harikrishna und in der dritten Runde gegen Arjun Erigaisi. Von einem Suchenden.
Von Thorsten Cmiel
Beginnen wir unsere Betrachtungen auf dem Brett mit dem entscheidenden Moment aus der zweiten Runde. Die beiden Inder hatten schon über fünf Stunden gespielt und hier war zunächst eine Entscheidung des älteren Inders gefragt.
Diese Stellung stammt aus der Partie Harikrishna – Praggnanandhaa aus der zweiten Runde bei Tata Steel Masters in Wijk aan Zee. Nach langem intensivem Kampf entscheidet im Schach etwa gleich starker Gegner meist der letzte Fehler über den Sieger. In dieser Stellung sollte Pentala Harikrishna die Türme auf c6 tauschen und trotz des einen Bauern weniger kann er die Stellung halten, vorausgesetzt, er findet die richtige Idee und die war nicht einfach zu entdecken. Das zeigt die Analyse. Das Endspiel ist auch danach noch sehr lehrreich und zeigt einige interessante Momente, die anzuschauen lohnen.
Runde 3: Praggnanandhaa gegen Erigaisi
Die beiden Inder sind gute Freunde und haben zusammen mit Pentala Harikrishna, Vidit und Gukesh mit der indischen Nationalmannschaft in Budapest Gold bei der Schacholympiade gewonnen. Auf dem Brett zählt das nicht und die Partien der Inder untereinander gehören meist zu den am härtesten umkämpften Partien überhaupt. So war es auch diesmal.
Pragg war von der Eröffnungswahl seines Gegners überrascht und spielte in dieser Standardstellung der Katalanischen Eröffnung einen selten gespielten Zug, den Boris Gelfand, einer der Mentoren der WACA, das ist die Westbridge Anand Chess Academy, die indische Kaderschmiede, 2009 bei seiner Partie im World Cup gegen Ruslan Ponomariov probierte. Praggnanandhaa zog hier seinen Springer nach e1. Der strebt von hier auf das schöne Feld d3. Es kann also sein, dass beide Spieler die Partie irgendwie kannten, aber dann wurde es doch anders. Pragg gelang es letztlich einen ordentlichen positionellen Vorteil zu erwirtschaften und Arjun nach einigen kleinen Ungenauigkeiten scheinbar leicht zu überspielen. Tatsächlich war es harte Arbeit.
In dieser Stellung musste Arjun eine Entscheidung treffen. Soll er den Läufer tauschen oder soll er diesen Tausch vermeiden? Tatsächlich überrascht die Entscheidung des etwas älteren Inders: Er zog hier seinen König nach f8, um die schwarzen Felder mit seinem König zu verteidigen. Besser war es stattdessen seinen Läufer mit dem Rückzug nach d8 zu erhalten und diesen zu nutzen, um die schwarzen Felder besser verteidigen zu können. Wir reden hier von kleinsten Nuancen wie sie die historisch stärksten Positionsspieler wie Boris Gelfand, Anatoly Karpov oder Magnus Carlsen in ihren Partien zu nutzen versuchten.
Hier konnte Pragg kurz darauf die Partie praktisch entscheiden. Er fand nicht den besten Zug, der die Partie nach einer weiteren Ungenauigkeit seines Gegners im Zug zuvor bereits frühzeitig hätte entscheiden können. Grundsätzlich ist es gut gegnerischen Schwächen früh zu fixieren. Um das zu erreichen wäre hier der Turmzug nach a6 sehr stark gewesen. Pragg verpasste diese frühe Chance und die Partie ging munter weiter. Dabei zeigte der Junge aus Chennai großen Kampfgeist, konnte aber seinen Vorteil nur auf symbolischem Niveau halten.
Pragg hatte das frühe Fixieren des gegnerischen a-Bauern verpasst und es war an Arjun in dieser Stellung mit Schwarz den wünschenswerten Vorstoß mit seinem a-Bauern zu vollziehen, der die Schwäche des gegnerischen c-Bauern offen gelegt hätte. Es ist nicht selten, dass Spieler Möglichkeiten auslassen, die sich ihnen mehrfach bieten. Das liegt dann oft an einer grundsätzlich leicht fehlerhaften Einschätzung. Die gleiche Ursache kann man in der Partie aus der zweiten Runde gegen Harikrishna entdecken. So passierte es hier erneut, Arjun verpasste eine Chance sich besser zu wehren und Pragg gewann letztlich eine insgesamt hervorragende Positionspartie.
Quo vadis Pragg?
Praggnanandhaa startet in Wijk meist sehr gut, um dann in der zweiten Hälfte des Turniers etwas abzubauen. Das mag an seiner Konstitution liegen, aber wie er selbst im folgenden Interview nach der Partie gegen Arjun erwähnt, hat er sich auch körperlich weiter entwickelt. Seine Fähigkeiten in Interviews nach der Partie sind ebenfalls im letzten Jahr besser geworden. An der Stelle war ihm der ein Jahr jüngere Gukesh voraus. Jetzt muss Praggnanandhaa nur noch seine eigenen Spielstil finden, oder besser eine bessere Balance der Spielweisen. Denn ein kompletter Spieler wird nicht nur als Positionsspieler durchkommen. Im letzten Jahr sah es zu Jahresbeginn so aus als würde Pragg den Weg eines reinen Positionsspielers einschlagen. Dann kam das Kandidatenturnier und der Junge aus Chennai spielte lange eher unwirkliche Maschinenvarianten, die ihm gelegentlich zum Verhängnis wurden, teilweise wegen seiner Unerfahrenheit verhedderte er sich. Erinnert sei an seine frühe Niederlage gegen Gukesh aus der zweiten Runde. Gegen Vidit funktionierte sein etwas unsolides Spiel dann hervorragend, aber mit seiner Gewinnstellung gegen Nepomniachtchi kam Pragg dann überhaupt nicht klar, verpasste eine Chance und beendete das Kandidatenturnier in Toronto mit fünfzig Prozent das war aus Sicht seiner Fans sicherlich etwas enttäuschend. Bei der Schacholympiade in Budapest spielte Pragg am zweiten Brett ebenfalls leicht unter den Erwartungen im überragenden Team der Inder. Jetzt ist Pragg zurück in Wijk und kann eine neue Richtung einschlagen.
Nach drei Runden führt Praggnanandhaa zusammen mit Nodirbek Abdusattorov das Feld mit 2,5 Punkten an.