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Die perfekte Partie (?)

Foto: John Brezina

Magnus Carlsen ist gelegentlich nicht zufrieden mit seinen Partien, weil sein Gegner durch ein kleines Übersehen eine unnötige Chance auf den Ausgleich bekam. Dahinter steckt der ständige Wunsch nach Perfektionismus und die Suche nach der perfekten Partie. In der ersten Runde im Sinquefield-Cup 2025 gelang Praggnanandhaa eine solche perfekte Partie – ausgerechnet gegen seinen Rivalen aus Chennai.

Von Thorsten Cmiel

Dominanzstrategien werden von manchen Spielertypen eher gespielt als von anderen. Wer eine riskantere offene Eröffnung wählt, der geht vermeintlich größere Risiken ein. Die deutschen Schachgroßmeister Karsten Müller und Luis Engel versuchten 2021 vier Spielertypen zu kategorisieren und den Vorteil der Selbstanalytik für das eigene Training zu propagieren. Man landet sehr schnell bei der Bezeichnung von Positionsspielern, die Müller und Engel als Reflektoren bezeichnen. Müller beschrieb in einem Interview die Stärken dieses Spielertyps so:

„Sie haben ein sehr tiefes Spielverständnis und erkennen relevante Muster auf den ersten Blick. Sie haben ein sehr feines Gespür für die Harmonie und Koordination der Figuren. Sie sind sehr gut, wenn es darum geht, die gegnerischen Figuren einzuschränken und deren Koordination zu stören. Typisch für sie sind aktive Prophylaxe sowie Dominanz- und Restriktions-Strategien. Strategische Endspiele behandeln sie sehr gut, denn dort kommen ihre Stärken voll zur Geltung, weil das dynamische Potenzial der Damen hier nicht mehr „stört“ und entsprechend weniger „Chaos“ aufkommen kann.“

„Ihre Schwächen: Sie haben manchmal Schwächen bei der Berechnung konkreter Varianten, was der Gegner ausnutzen könnte, indem er konkrete dynamische Stellungen anstrebt, in denen jeder einzelne Zug von entscheidender Bedeutung sein kann und umfangreiche und konkrete Berechnung erfordert.“

Der aktuelle Meister der Reflektoren ist eindeutig Magnus Carlsen – ihm gelang es öfter als anderen das Gegenspiel seiner Gegner einzuschränken. Typische Reflektoren waren ebenfalls die ehemaligen Weltmeister Karpow und Capablanca, um ganz oben ins Regal zu greifen. Von den aktiven Turnierspielern sind beispielsweise Vincent Keymer und Levon Aronian typische Protagonisten dieses Spielertyps. Dominante Partien, die Teil einer perfekten Partie sind, wird man also am ehesten bei Spielern dieses Spielstils finden können.

Insbesondere junge Großmeister suchen oft noch ihren bevorzugten Spielstil. Auch ist nicht klar, ob eine Einschätzung des Spielertyps überhaupt in einer so frühen Karrierephase gerechtfertigt oder hilfreich ist. Praggnanandhaa, Pragg, ist sicher kein reiner Reflektor im Sinne der Definition von Müller, wie Vincent Keymer beispielsweise, der vermutlich Kontrolle als wichtigstes Ziel seines Spiels ansieht. Die Fähigkeit von Pragg auch aktive Spielweisen regelmäßig in seinem Spiel einzusetzen, macht ihn eher zu einem universellerem Spielertyp als der Deutsche zurzeit noch ist. Folgt man dem Autorenduo Müller/Engel, dann wird man den amtierenden Weltmeister Gukesh vermutlich am ehesten als Aktivspieler bezeichnen müssen: Er ist ein starker Rechner, der gelegentlich positionell zweifelhafte Bauernzüge einstreut. Das ist eine Schwäche, die wir beim Weltmeisterschaftskampf in Singapur 2024 beobachten konnten. Das heißt aber nicht, dass Gukesh keine feinen Positionsleistungen abliefern kann.

Eine Partie aus Toronto zeigt wie stark Gukesh auch in der Kategorie Dominanzstrategie unterwegs ist, ihm unterlief aber gegen Nepomniachtchi das Missgeschick seine positionelle Gewinnstellung nicht verwertet zu haben. Die Anmerkungen zu dieser Partie stammen vom indischen Schachgroßmeister Sundararajan Kidambi, der einen sehr empfehlenswerten Blog betreibt. Der Schachlehrer Kidambi ist bekannt für seine Anhängerschaft klassischer Partien und stellt bei seinen Analysen oft lehrreiche historische Vergleiche her. So auch in dieser Partieanalyse.


Bis hierhin hatte Gukesh mit den weißen Steinen seinen Gegner überzeugend vom Ausgleich ferngehalten und optisch sichtbar einen ordentlichen Raumvorteil erzielt. Wie sollte der Inder hier am besten fortsetzen?


Einen Zug später war Gukesh erneut dran. Sollte Weiß den Turmtausch anstreben und anschließend auf seinen Strukturvorteil Läuferpaar setzen? Wie sollte er sein Läuferpaar am besten zum Einsatz bringen – mit oder ohne Turm auf dem Brett?

Hinweis zum Nachspielen

Klicken auf die Notation öffnet ein Popup-Partiefenster.


Was ist eine perfekte Partie?

Wir schauen uns zunächst das Profil einer Partie als Chart einer Schnellanalyse mit einem Lichess-Tool an. Unten ist die Erstrundenpartie von Praggnanandhaa gegen Gukesh angezeigt. Bei gut vorbereiteten Spielern passiert in der Eröffnung meist wenig und ein Spieler konserviert und verwertet einen minimalen Vorteil nach ungenauem Spiel des Gegners. Für eine perfekte Partie sollte es an Swings, also größeren Bewertungswechseln gegen einen etablierten Bewertungstrend fehlen. Ich würde noch ergänzen, dass der Gegner zumindest nicht viel schlechter sein sollte als der Protagonist mit der perfekten Partie. Zu einer perfekten Partie gehört also ordentlicher Widerstand und der Partie sollte nicht durch einen groben Fehler entschieden werden, der die Partie als Gesamtkunstwerk entwertet. Es gehören also immer zwei Spieler dazu, um eine herausragende Schachpartie zu kreieren.

Abweichungsanalyse

Stockfish 17, die aktuell beste Schachengine, gibt in einer etwas aufwändigeren Analyse als der hier präsentierten Lichess-Analyse (mit der gleichen Engine!) folgende Werte: Praggnanandhaa 0.02 „Centibauern“, was einem aus Sicht der Maschine fast perfektem Spiel entspricht. Keiner der Züge des Inders wurde aus dem Maschinenraum kritisiert und die Abweichung zur Spielweise der Engine betrug also 0.02 Bauerneinheiten im Schnitt pro Zug. Das ist eine absolute Top-Leistung. Gukesh wiederum bekam eine Bewertung von 0.24 Centibauern, was unter seinem üblichen Spielstandard liegt, aber immer noch eine relativ gute Leistung des Weltmeisters darstellt. Es war also angerichtet.

Foto: Crystal Fuller, St. Louis Chess Club

In dieser Stellung steht Gukesh vor der Frage, ob er seinen Läufer nach a7 oder besser nach e7 zurückziehen sollte. Das Standardfeld in ähnlichen damenlosen Stellungstypen ist im angenommenen Damengambit und in katalanischen Strukturen meist das Feld e7. Das sichert im Zweifel die Grundreihe und kämpft um das Feld d6. Der amtierende Weltmeister entscheidet sich in dieser Stellung für das Feld a7 und liegt falsch. Vielleicht störte den Inder die Schwäche des Feldes b6, das der Gegner schnell mit dem Springerzug nach a4 auszunutzen versuchen konnte, wie der Internationale Meister und Journalist Stefan Löffler anmerkte. Wie sollte Schwarz dann – mit dem Läufer auf e7 fortsetzen?


Einen Zug später ist Gukesh erneut am Zug und hat schon einige Probleme zu lösen. Ähnlich wie in seiner Partie gegen Nepomniachtchi verliert er erneut Zeit durch den Kampf um die d-Linie. Danach ist Pragg bereits positionell auf der Gewinnerstraße und erlegt seinen Gegner scheinbar mühelos. Das täuscht jedoch, denn genaue Züge sind harte Arbeit und Pragg liefert ein Meisterwerk ab. Die perfekte Partie.

John Brezina

Foto:  Lennart Ootes, St. Louis Chess Club

Fazit

Ich glaube nicht, dass die Maschine einen alleine ausreichenden Hinweis liefert, ob eine Partie perfekt ist. Aber die Analyse mit einer Maschine ist ein guter Indikator, um sich mit einem Kandidaten für eine perfekte Partie genauer zu beschäftigen. Gelegentlich kann, um ein Beispiel zu nennen, der Übergang in ein sicher gewonnenes Endspiel die Partieaufgabe forcieren. Der Rechner findet einen schnelleren Gewinn und meckert dann rum. Das wäre ein Beispiel für ein Bewertung, die ich für überflüssig halte. Oder ein taktischer Gewinn in einer Partie ist völlig unpraktisch aus menschlicher Sicht, dann würde ich auch die Kritik aus dem Maschinenraum überstimmen wollen. Am Ende des Tages zählt im Schachsport das Ergebnis.

Fotos: Crystal Fuller, Lennart Ootes, beide für St. Louis Chess Club. John Brezina.


SERVICEHINWEIS

Durch Klicken auf den orange markierten Button kann die Partieanalyse heruntergeladen werden.


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