Ein Portrait von Thorsten Cmiel. (Archiv 2019)
Ramesh ist ein freundlicher Mensch, der ständig sein Lachen zeigt. Hier ist jemand erkennbar zufrieden mit dem was er macht und mit seinen bisherigen Entscheidungen im Leben. Aber wer ist dieser Ramesh eigentlich?
Zuerst traf ich Ramesh im Mai 2019 anlässlich eines Trainingscamps für die Quality Chess Academy auf Kreta. Dann konnte ich ihn in Abu Dhabi etwas genauer befragen. Es war ein ausführliches Gespräch mit dem Coach der indischen Nationalmannschaft über indische Ambitionen, die explodierende Entwicklung des Schachs in Indien, die Bedeutung von Vorbildern, Erfolgsfaktoren beim Schach, Talente, die Nationalmannschaft, seinen Schützling Praggnanandhaa und dessen Schwester Vaishali.
Ramachandran Ramesh, kurz R.B. Ramesh, geboren 1976, ist seit 1996 Internationaler Meister und seit 2003 Großmeister. Er gewann 2002 die britische Meisterschaft und wurde 2007 Commonwealth-Meister. Verheiratet ist Ramesh mit Aarthie Ramaswamy, die einen erheblichen Einfluss auf seine Karriere als Trainer nahm. Aarthie ist heute in der gemeinsam betriebenen Schachschule „Gurukul“ in Chennai vor allem für das Anfängertraining, die Organisation und den Umgang mit den Eltern verantwortlich. Während Ramesh sich neben Online-Trainings am liebsten auf das Training von indischen Top-Talenten unter seinen Schülern konzentriert.
„Als ich meinen sicheren Job kündigte, haben mich viele für verrückt erklärt.“
(R.B. Ramesh)
Ramesh wurde 1998 erstmals als Coach für Indien zu einer Jugendweltmeisterschaft geschickt. „Ich weiß nicht, weshalb sie mich als Coach ausgewählt haben (lacht). Meine Inspiration war Anand. Ich wollte werden wie er, ein Schachgroßmeister. 1998 war ich Internationaler Meister und mein erster Student war Aarthie Ramaswarmy, die später meine Frau wurde. Damals gab es in Indien keine Trainer. Es gab natürlich Spieler, die auch Schach unterrichteten. Aber Trainer war damals kein eigenes Berufsbild. 1999 gewann Aarthie die U18-Weltmeisterschaft. Sie war nicht die Favoritin, aber sie gewann das Turnier sehr überzeugend und das gab mir die Zuversicht, dass ich ein guter Trainer sein könnte. Danach begann ich mit vielen Spielern zu arbeiten, die oft in meinem eigenen Alter waren. Auch bei dieser Arbeit hatte ich Erfolg und das bestärkte mich darin, die Aufgabe als Trainer noch seriöser anzugehen.“
Eine eigene Schachschule
Gesellschaftlich ging und geht es in Indien darum, positive Rollenbilder zu schaffen, die andere Inder inspirieren zu besseren eigenen Leistungen. Das bezog sich auf verschiedene Gebiete, auch auf Sport. Wer etwas Außergewöhnliches im Schach erreichte, erhielt die Chance, einen gut bezahlten, lebenslangen Job zu bekommen, vergleichbar mit einem Sponsorenvertrag. Inzwischen hat sich natürlich etwas verändert (Anmerkung: Indien hat im August 2019 insgesamt 64 Großmeister). Aber immer noch übernehmen öffentliche Unternehmen, die Reise- und Unterkunftskosten von jungen Spielern bei internationalen Turnieren als Teil einer Art Sportförderung. Die Branchen der Unternehmen, die Sport fördern, haben sich mit der Zeit allerdings etwas verändert: Banken und Energiefirmen, oft in mehrheitlich öffentlichem Eigentum, sind noch als Sponsoren aktiv. So ist beispielsweise Karthikeyan Murali, einer der Schüler von Ramesh bei der teilstaatlichen Öl- und Gasgesellschaft ONGC beschäftigt.
Ramesh selbst hatte als einer der ersten Großmeister Indiens noch einen garantierten Job bei einem dieser staatlichen Unternehmen erhalten. 2008 entschied er sich jedoch dafür, seinen Halbtagsjob zu kündigen. Ramesh konnte sich nicht vollends auf das konzentrieren, was er am liebsten macht, Schach unterrichten. Er war unzufrieden mit seiner Situation. Nach Absprache mit Aarthie kündigte der damals junge Familienvater seinen Job und gründete gemeinsam mit seiner Frau eine Schachschule in Chennai. „Als ich meinen sicheren Job kündigte, haben mich viele für verrückt erklärt.“ Heute, in der Rückschau, ist diese Entscheidung ohne Zweifel richtig gewesen.
Schach für Kinder
Ramesh ist aktuell der vielleicht erfolgreichste Nachwuchstrainer der Welt. Seine Schützlinge kommen auf über 31 Titel bei Weltmeisterschaften, 40 Titel bei Asienmeisterschaften und 34 nationale Titel. Falls sein Eintrag bei Twitter aktuell ist, denn er pflegt seine Onlinepräsenzen nicht intensiv. Der Andrang von neuen Schülern ist ohnehin groß. 500 Schüler betreut er zurzeit weltweit. Die meisten davon sind Kinder, die von ihren Eltern angemeldet wurden. (Anmerkung: Stand August 2019)
Das beste Einstiegsalter sei zwischen fünf und sechs, zumindest wenn man den großen Erfolg will. Um Großmeister zu werden sei es ideal, jeden Schultag zwei Stunden zu trainieren und an Wochenenden vier Stunden am Tag aufzuwenden. Das ist vergleichbar mit anderen Sportarten. Eltern sollten ihre Kinder unterstützen und sind insofern ein wichtiger Faktor beim Prozess der Entwicklung ihres Kindes. Im besten Fall engagieren sie den richtigen Trainer für die jeweilige Entwicklungsstufe des Kindes. Da Schach ein Sport ist, gehört der Umgang mit guten und schlechten Phasen dazu und das müssen auch Eltern akzeptieren.
Wie trainiert man richtig
Wer Ramesh aufmerksam zuhört, der versteht, dass Erfolge im Schach das Ergebnis harter, regelmäßiger Arbeit und kein Zufall sind. Es geht nicht um den schnellen Erfolg, um Abkürzungen. Die harte Arbeit am eigenen Können wird sich letztlich auszahlen und in Ergebnissen sichtbar werden. Jeder könne im Schach Erfolge erzielen. Zudem gibt es natürlich außergewöhnliche Talente. Diese Wunderkinder müssen jedoch genauso seriös an ihrem Schach arbeiten, um ihr Potenzial zu heben. Bei Praggnanandhaa beispielsweise gehört zu seinem Talent sein Wissensdurst, ein hervorragendes Erinnerungsvermögen, überragende Rechenfähigkeiten und die Bereitschaft, sehr aufmerksam am Training teilzunehmen.
Ramesh vertritt die Auffassung, dass das Training schwierigere Probleme enthalten sollte als das Spiel im Turnier. Dort sollte man dann den „Flow“ nutzen und Turnierpartien sollten relativ leicht von der Hand gehen. Damit meint Ramesh übrigens nicht, dass sich die Kinder mit Eröffnungstraining beschäftigen und damit einfache Punkte einfahren sollten. Im Gegenteil: Gerade zu Beginn sollte das Training nur zu maximal 20 Prozent auf diese erste Spielphase besonderen Wert legen. beim Training mit Praggnanandhaa hat er beispielsweise vor einigen Jahren gar keine Aufmerksamkeit auf die Eröffnungsphase gelegt. Wichtiger sei es, die Basis für ein erfolgreiches Spiel zu begründen. Die Bedeutung des Eröffnungstrainings wird sich dann später, beim fertigen Spieler, ohnehin auf etwa 60 Prozent oder sogar mehr, im Selbststudium erhöhen.
Ein Teil des typischen Trainingsplans ist das Lösen von Taktikaufgaben, Mittelspielstellungen, Endspielen und Studien. Das Nachspielen von aktuellen Großmeisterpartien gehört ebenfalls zu dem täglichen Trainingspensum, das jeder Spieler mit Ambitionen absolvieren sollte. Ramesh empfiehlt jeden Tag fünf bis zehn Partien der besten Spieler der Welt beispielsweise online zu verfolgen. Dabei sollte man nicht nur die Züge nachspielen, sondern die Ideen der Züge zu verstehen suchen. Praggnanandhaa ist noch fleißiger und nutzt sein sehr gutes Erinnerungsvermögen, um täglich bis zu 50 Partien und Besonderheiten der verfügbaren Partien der Topspieler zu memorieren.
Blindschach-Training
Zu der „Methode Ramesh“ gehört es, seinen Schützlingen immer wieder Aufgaben ohne Ansicht des Brettes vorzulegen. Komplexe Mittelspielstellungen oder Studien werden dann im Kopf analysiert, in Gruppen besprochen und bestenfalls gelöst. Etwas schelmisch erzählt er mir eine Episode aus dem Trainingslager der indischen Nationalmannschaft: Es war ausgerechnet Vishy Anand, der nach einer ungelösten, komplizierten Aufgabe als erster Spieler die Figuren auf einem Brett aufbaute. Es ist wohl kaum als Kritik zu verstehen, denn Anand ist das Idol von Ramesh, der wie „Vishy“ auch aus Chennai stammt. Vielleicht ist es das Alter, denke ich mir. Es folgt das typische Ramesh-Lachen, welches das gesamte Gesicht nutzt und bei dem man nie genau weiß was er gerade denkt. Aber ansteckend ist sein Lachen allemal. Sehr.
Ramesh legt großen Wert auf eine gute Stimmung und wenn man seine Schützlinge in Abu Dhabi beim Abendessen beobachtet, dann sieht man sogar Praggnanandhaa gelegentlich lächeln und aktiv Geschichten erzählen. Das ist für einen Jungen seines Alters – er wird während des Turniers in Abu Dhabi im August 2019 14 Jahre alt – keine Selbstverständlichkeit in Anwesenheit von älteren und bereits etablierten Spielern. Die kleine Delegation aus Chennai bestand in Abu Dhabi aus Murali Karthikeyan, Chitambaram Aravindh, Vaishali Rameshbabu, Praggnanandhaa Rameshbabu und Ramesh.
Indien: Hightech-und Schachnation
Kurz vor unserem Gespräch hatte Indien eine unbemannte Raumsonde zum Mond geschickt. Nach den USA, Russland und China wäre Indien die vierte Nation, der eine Mondlandung gelänge – die Ankunft ist im September 2019 geplant. Es mache Inder stolz, wenn wieder etwas erreicht sei, so Ramesh. Im Gespräch wird mir immer wieder klar, wie wichtig für Inder Vorbilder und internationale Erfolge sind. Die indische Gesellschaft ist ambitioniert in vielerlei Hinsicht und bereit aufzuholen. Es scheint jedoch ebenfalls eine Mentalitätsfrage für Inder zu sein, bei Rückschlägen schnell an Selbstvertrauen zu verlieren.
Weltweiter Wettbewerb
Längst tobt ein weltweiter Wettbewerb um den Titel der Welthaupstadt im Schach. Ist es St. Louis, weil dort ein Finanz-Milliardär der Weltelite ein schickes Domizil gestiftet hat? Oder ist es immer noch Moskau in dem jedes Jahr das stärkste Open der Welt stattfindet? Vielleicht ist die eigentliche Hauptstadt des Schachs allerdings eine Stadt in Indien? Wie wäre es mit der Stadt in der Ramesh seine Schachschule eröffnet hat?
Chennai ist unzweifelhaft eine Schachhochburg. Das liegt vor allem an Vishy Anand, der seit etwa zehn Jahren wieder in seiner Geburtsstadt lebt und 2007 indischer Sportler des Jahres wurde. Anands erster besonders wichtiger Erfolg war 1987 der Gewinn der Juniorenweltmeisterschaft U20. Großmeister wurde er 1988; inzwischen erhält man den Titel eines Großmeisters automatisch, wenn man Juniorenweltmeister wird. Anand, geboren 1969, qualifizierte sich 1990 für das Kandidatenturnier. 1995 spielte Anand gegen Kasparow erstmals um die Weltmeisterschaft. Das Match fand im Südturm des World Trade Centers statt. Im Jahr 2000 gelang Anand der Gewinn des Fide-Weltmeister-Titels. 2007 dann errang er in Mexico-City den (echten) WM-Titel, den er 2013 nach drei vorherigen Titelverteidigungen (gegen Kramnik, Topalow und Gelfand) letztlich 2013 gegen Magnus Carlsen abgab. Gespielt wurde dieses Match in Chennai. Chennai ist mit knapp 9 Millionen Einwohnern die Hauptstadt der Region Tamil Nadu und ein beliebtes Reiseziel. Die Bevölkerung von Tamil Nadu macht mehr als 72 Millionen Einwohner aus und ist eine der reicheren Provinzen Indiens. An europäischen Maßstäben gemessen ist die gesamte Region Tamil Nadu allerdings nicht sehr fortgeschritten (das Pro-Kopf-Inlandsprodukt liegt bei 2700 $). Chennai hieß früher Madras, weshalb Vishy Anand den Beinamen „Tiger von Madras“ erhielt.
Vorbilder für Indien
Es ging in den 90er-Jahren darum, im indischen Schach den Spielern die Zuversicht zu geben, dass Inder gute Leistungen erbringen können. Lange Zeit gab es in Indien nur ein internationales Schachturnier und die ersten Plätze wurden zuverlässig von ausländischen Teilnehmern abgeräumt. So kamen beispielsweise Spieler aus Russland mit einer besseren Rating und indische Spieler verloren meistens ohne Chance gegen diese Spieler, weil es ihnen an Selbstvertrauen und Zuversicht fehlte. Es klingt bei Ramesh als hätten Inder noch in den 90er-Jahren ein Mentalitätsproblem gehabt. Als Ramesh selbst die Bayrische Meisterschaft mitspielte, wurde er gefragt, weshalb er dort mitspiele. Inder galten offenbar aus Sicht anderer Nationen als nicht genügend wettbewerbsfähig. Zumindest hat er die Frage so interpretiert. Heute, in Zeiten in denen indische Delegationen nach Turnieren im Ausland oft mit tausenden Rating-Punkten mehr im Gepäck zurückfahren, ist diese Sichtweise fast unvorstellbar. Beim aktuellen Worldcup sind zehn von 128 Teilnehmern aus Indien und kein Gegner wird sie unterschätzen. Sicher.
Junge Schachspieler als Vorbilder
Indien hat eine Bevölkerungszahl wie ein Kontinent. Zuletzt wurde die Zahl der Inder im Land auf 1,368 Milliarden Einwohner geschätzt. Dadurch ist Indien bei etwas Euphorie natürlich rein zahlenmäßig eine potentielle Fundgrube für viele Talente in jeder Sportart oder Wissenschaft. Tatsächlich gibt es inzwischen unterhalb der Riege der Topspieler Schulschachaktivitäten mit unvorstellbaren Teilnehmerzahlen.
Tatsächlich zeigt ein Blick in die Teilnehmerliste der kürzlich gespielten Kadetten-Weltmeisterschaften (U8-U12) in China, dass dort vor allem Nationen wie China, die USA und Indien die größten Delegationen stellen. Allerdings sprang diesmal kein Podiumsplatz für Indien heraus. Die erfolgreichsten Nationen waren Russland, China und die USA. Interessanterweise die drei Nationen, die vor Indien auf dem Mond gelandet sind.
Der Blick auf die stärksten, etwas älteren Jugendlichen der Geburtsjahrgänge 2003 bis 2007, also Teens im Alter von 12 bis 16, zeigt eine indische Dominanz in der Spitze. Acht von 15 der zurzeit (September-Liste 2019) stärksten Jugendlichen sind aus Indien. Auch eines der in der Zukunft vielleicht größten Talente ist indischstämmig.
Nationalheld und Inspiration für die jüngere Generation
Der erste indische Schachgroßmeister und spätere Weltmeister, Vishy Anand, ist überregional und auch außerhalb der Schachszene in Indien bekannt. Eine große Inspiration war zudem beispielsweise Harikrishna, der Leute in seiner Region motivierte. Harikrishna, inzwischen in der erweiterten Weltspitze (aktuell im September 2019 Nummer 16) angekommen, war 2004 Juniorenweltmeister und ist einer der ersten Spieler, die früh von Ramesh gecoacht und trainiert wurden. Jetzt ist Ramesh erneut sein Coach in der Nationalmannschaft. Heutzutage sind die Kids Nihal, Pragg und Gukesh eine Inspiration für die jüngere Generation. Anand nimmt seine Aufgabe als nationaler Hero und Idol offenbar gerne wahr und lädt immer wieder Junggroßmeister zu sich nach Hause ein. Anmerkung: Ende 2020 gründete Anand zusammen mit dem Unternehmen Westbridge die WACA (Westbridge Anand Chess Academy) als Kaderschmiede für indische Elitespieler und 2022 wurde er Vize-Präsident des Weltschachbundes FIDE.
Das Foto zeigt einen ikonischen, stolzen Moment für das indische Schach. Der fünfmalige indische Schachweltmeister Anand führt den symbolischen ersten Zug für seinen Landsmann Gukesh bei der Schachweltmeisterschaft 2024 in Singapur aus. Selten beginnt allerdings Schwarz, aber Gukesh hatte diese Farbe in der vierten Partie gegen Ding Liren.
Sponsoring
Die Teilnahme an internationalen Turnieren ist teuer: Zu den hohen Reisekosten aus Indien addieren sich die Kosten der Unterbringung. Immer wieder überrascht mich der Erfindungsreichtum der Inder bei der Finanzierung. Die Regierung sponsert beispielsweise die Reisekosten für einige Top-Jugendliche. Als ich an der Rezeption im Hotel in Abu Dhabi anstehe, sagt die Frau an der Rezeption zu einem indischen Delegationsleiter, der mit einem Dutzend Jugendlichen angereist ist, dass die Rechnung bereits von einem Unternehmen beglichen wurde. Erfreulich denke ich mir.
Für einen inzwischen etwas älteren Schüler von Ramesh, Chitambaram Aravind, fanden sich bei einer Crowdfunding-Aktion Sponsoren für dessen Reisekosten. Kreativ.
Praggnanandhaa hat sich ein vierjähriges Stipendiat aus den USA erspielt, das seine Reise- und Trainingskosten covern soll. Zudem prangt auf seinem Anzug das Logo des Sponsors Ramco, einem Softwareunternehmen, das auch die Nationalmannschaft unterstützt. Anfang September 2019 schloss Nihal einen sehr hoch dotierten Sponsorenvertrag ab mit einer Molkerei. Gukesh, der zweitjüngste Großmeister aller Zeiten, einen Sponsoren zu finden. Anmerkung zum Stand 2024: Die Sponsoren sind inzwischen andere und die Dotierungen auch. Das indische Spitzenschach profitiert und Schachschulen schießen im ganzen Land wie Pilze aus dem Boden.
Die indische Nationalmannschaft
Ramesh ist seit vier Schacholympiaden Coach der indischen Nationalmannschaft. Er betrachtet die Dinge immer etwas weiter als nur den aktuellen Erfolg. Inzwischen ist Indien mit seiner Nationalmannschaft nach den guten Ergebnissen bei den letzten Schacholympiaden (2014 3. Platz, 2016 4. Platz) eine Nation, die von den anderen Nationen respektiert wird. Das zählt.
2018 kam es nach zwölf Jahren Abstinenz erneut zu Anands Teilnahme an der Schacholympiade und das Team war automatisch einer der Favoriten, dem man als Nummer 5 gesetzt sogar den Turniersieg zutrauen konnte. Allein die Ankündigung der Teilnahme von Anand löste in der Schachszene in Indien eine Euphorie um das Team aus. Es entbrannte ein harter Kampf um die Plätze vier und fünf im Team. Anand, Harikrishna und Vidit waren als Spieler mit einer Rating über 2700 natürlich gesetzt.
Nach den Erfahrungen von Ramesh kommt es in Fünfer-Teams öfters dazu, zwei Teams im Team zu haben und ein Spieler ist gelegentlich zusätzlich isoliert. Die Herausforderung von Ramesh war es also, das von vornherein zu vermeiden. Das Team war vorher in mehreren Trainingslagern und betrieb „Teambuilding“. Dabei wurden beispielsweise Witze über die Spielweise von Adhiban gemacht. Die Stimmung im Team war bestens. Vidit reiste zur Schacholympiade in Batumi 2018 außer Form an und das Team hoffte, dass sich die Nummer Drei während des Turniers aus seinem Tief erholen würde. Er hatte laut Ramesh hoffnungsvolle oder gar gewonnene Positionen, aber fand keine Lösungen und schüttelte immer wieder den Kopf während der Partien, so die alarmierende Beobachtung von Ramesh. Vidit fehlte sichtlich das Selbstvertrauen. Ihn dennoch häufig einzusetzen war eine bewusste Entscheidung, da man eine Schacholympiade nicht mit nur vier Spielern bestreiten könne. Das Team war bis zum Kampf gegen die USA auf einem guten Weg. Leider verlor Vishy Anand gegen Fabiano Caruana (in Runde 4) und damit auch persönlich etwas an Selbstvertrauen. Vorher hatte er beispielsweise Markus Ragger in einer überzeugenden Partie geschlagen. Wie gut das Team zusammenhielt, zeigt sich daran, dass Anand sich beim Team für die Niederlage entschuldigte.
Das sei aber kein Problem gewesen und ohnehin Teil des Sports, insofern bestand die Aufgabe von Ramesh darin, zu verhindern, dass das Team kollektiv das Selbstvertrauen verliert und das gelang weitgehend. Insgesamt verlor Indien nur drei Einzelpartien und als Team folgte nur noch eine weitere Niederlage gegen Armenien bei der ausgerechnet der Topscorer Sasikiran (im Schlussspurt 4 aus 5) seine einzige Niederlage einstecken musste. Die Zahl der Remis erwies sich allerdings als zu hoch. Es gewann schließlich China vor den USA und Russland. Indien landete auf Platz 6.
Die Fotos zeigt die Emotionen von Coaches während wichtiger Kämpfe. Hier sind Ramesh und Ivan Sokolov zu sehen während des dramatisches Kampfes von Indien B gegen Usbekistan bei der Schacholympiade 2022. Die Geschichte der Partie zwischen Gukesh und Nodirbek Abdusattorov ist eine ganz eigene, dramatische Geschichte.
Was kann man von Pragg und Vaishali erwarten?
Die beiden Geschwister aus dem Hause Rameshbabu repräsentieren vielleicht die nächste Chance, zwei Weltmeister (Open und Frauen) aus einer Familie zu haben, nachdem die Polgars relativ knapp gescheitert sind. Im Jugendbereich haben die beiden jungen Inder eine gemeinsame Regentschaft bereits geschafft (2015: U14w und U10). Spieler müssen natürlich ambitionierte Ziele formulieren. Pragg nannte selbst einmal das Ziel einer Elo von 3000 Punkten in einem Interview. Ramesh lacht auf. Es ist ein herzliches Lachen, ein Ramesh-Lachen, denn ich weiß erneut nicht genau wie dieses Lachen zu verstehen ist. Vielleicht findet er das Ziel durchaus realistisch.
Gespräche mit Ramesh sind tiefgründig, freundlich und lehrreich. Im Sommer 2024 konnte ich in Italien ein weiteres Gespräch mit ihm und seiner Frau Aarthie Ramaswamy führen. Was dabei besprochen wurde wird Teil eines anderen Projektes sein.
Hintergrund zum Text
Das Gespräch fand 2019 statt und der erste Teil wurde am 9. September des gleichen Jahres bei Chessbase unter dem Titel „Der (wahrscheinlich) erfolgreichste Trainer der Welt: RB Ramesh“ in drei Teilen veröffentlicht.
Inzwischen regiert Indien die Schachwelt. In 2022 gewann das indische B-Team eine Bronzemedaille mit dem Trainer Ramesh und einem Team ambitionierter Coaches. 2024 gewann Indien mit Srinath Narajanan als Headcoach die Goldmedaille. Gukesh (geboren 2006), Arjun Erigaisi (2003) und Praggnandhaa (2005) gehören mindestens für ein Jahrzehnt, eher zwei, zu den heißesten Aspiranten auf den Weltmeistertitel. Der jüngste der drei genannten Spieler ist Gukesh und der spielt im Moment dieser Nachbearbeitung den Weltmeisterschaftskampf in Singapur.
Von den persönlichen und im Text erwähnten Schützlingen von Ramesh und Aarthie konnte Vaishali 2023 den Großmeistertitel klarmachen und gewann das Grand Swiss. Beim Kanidatenturnier in Toronto landete sie auf dem vierten Platz. Pragg wurde 2023 Zweiter beim World Cup und qualifizierte sich ebenfalls erstmals für das Kandidatenturnier. 2024 war für Chithambaram Aravindh (Jahrgang 1999) ein sehr erfolgreiches Jahr. Er etablierte seine Elozahl über 2700 Punkten und gewann im Herbst das Chennai Masters. Murali Karthikeyan (1999) hat Scalps von Magnus Carlsen und Alireza Firouzja an seinem Trophäengürtel und ist der indische Experte, wenn es um Schachstudien geht.
Zu Beginn der Pandemie eröffnete Ramesh zusammen mit seinen Großmeisterkollegen Surya Ganguly und Magesh Chandran Panchanathan die Online-Schachschule ProChessTraining und ist inzwischen in vielen weltweiten Kooperationen unter anderem in Kooperation mit Magnus Carlsen unterwegs.
Zur Illustrierung des Textes wurden andere, teilweise neuere Fotos als im Original verwendet. Das Titelbild stammt aus 2019 und entstand während des Gespräches. Am ursprünglichen Text wurden leichte Änderungen und Kürzungen vorgenommen.