Titelfoto: Maria Emelianova Chess.com (FIDE Chess)
Von Thorsten Cmiel
Die Spannung steigt und die Komplexität der Partien nimmt zu: In der achten Partie haben beide Spieler Chancen auf den vollen Punkt. Der Herausforderer lehnt erneut ein stilles Angebot seines Gegners ab und zeigt mentale Stärke. Dafür gibt es Applaus von den Fans und Maurice Ashley verliert Haare.
Gukesh sitzt heute bereits in der Eröffnungsphase leicht vorgebeugt am Brett. Das ist ungewöhnlich, denn in den vorigen Runden hatte der Inder sich meist zu Beginn in seinen Gamingsessel zurückgelehnt und war durch seine geschlossenen Augen aufgefallen. Vielleicht ist heute etwas anders und Gukesh will nach den verpassten Chancen in der siebten Runde endlich erstmals in Führung gehen. In der Eröffnungsphase kann das Team Gukesh heute erneut punkten.
Der chinesische Titelverteidiger probiert erneut einen anderen Eröffnungszug aus und startet diesmal mit der Englischen Eröffnung. Gukesh und sein Team zeigen sich exzellent vorbereitet und es ist der Inder, der das erste Ausrufezeichen setzt. Der siebte Zug mit dem f-Bauern nach f6 zu ziehen ist logisch, da er das eigene Zentrum stärkt und so den eigenen d-Bauern mobil macht. Erneut ist es Ding Liren, der in der Folge zuerst eine längere Denkpause einlegt und einen Plan sucht. Soll er irgendwann im Zentrum mit dem Damenbauern nach d4 vorrücken, oder soll es heute etwas vorsichtiger sein mit d2-d3?
Der Weltmeister entscheidet sich früh dafür, den d-Bauern ganz hinten zu lassen und stattdessen das gegnerische Zentrum mit dem f-Bauern zu attackieren. Ulrich Stock (Die Zeit) wir den Turm, der über f4 und e4 ins Spiel findet, später in der Kantine bei der Ideensuche für seinen Text als „Wanderturm“ bezeichnen. Objektiv betrachtet ist Gukesh gut aus der Eröffnung gekommen und im 22. Zug unterläuft dem Chinesen ein ernster Fehler, der es Gukesh ermöglicht, die Initiative zu übernehmen und eine Bauernwalze am Damenflügel in Gang zu setzen.
Gukesh reagiert mit dem Doppelschritt seines b-Bauern. Plötzlich ist Ding in der Defensive und verliert erstmals in dieser Partie die Kontrolle. Tatsächlich ist es sehr schwierig eine Verteidigung für den Weißen zu finden. Ding entscheidet sich einige Züge später für ein pragmatisches Bauernopfer. Die Aufgaben, die sich beiden Spielern stellen, werden immer komplexer und so verwundert es nicht, dass beide Spieler in der folgenden Spielphase nicht immer die besten Fortsetzungen entdecken.
Zuletzt hatte Ding Liren die Dame seines Gegners attackiert. Damenzüge kommen nicht in Betracht, da sie entweder den a- oder den b-Bauern verlieren, insofern blieb nur die Option einen Springer nach c5 zu ziehen. Natürlicher ist es hier den Randspringer in Richtung Brettmitte zu manövrieren. Aber: Genau diese Argumentation war falsch. Schwarz musste stattdessen den Springer von d7 bringen. Jan Timman erklärt es.
Eine alte Regel besagt, dass sich Springer nicht gegenseitig beschützen sollten. Der Grund dafür ist, dass beide Springer verwundbar sind. Deshalb hätte Gukesh 26.-Ndc5 spielen sollen. In diesem Fall wäre der andere Springer sicher vor jedem Angriff auf a6 geblieben.
Jan Timman via X, vormals Twitter.
Zuletzt hatte Ding Liren sehr stark seine Dame von d1 nach e1 gezogen. Das beinhaltet eine versteckte Drohung, mancher Kommentator etwas wortgewaltiger unterwegs würden diese vielleicht als teuflisch bezeichnen. Der Inder sah die Idee von Weiß jedenfalls nicht, spielte als Antwort zu sorglos und zog seinen Läufer nach e6 zurück. Diese Entscheidung durfte er sofort bereut haben, denn der Chinese erhöhte den Druck auf der Diagonalen.
Sofort wird offensichtlich, dass der Inder in großen Schwierigkeiten steckt. Er ist kreuzweise gefesselt und die Position fühlt sich plötzlich ziemlich unangenehm an. In der Folge sichert sich Ding Liren etwas Materialvorteil und die Fans des Inders in der Chessbase Show in Mumbai machten sich erstmals einige Sorgen. Immerhin schaltete Gukesh in der Folge zunächst auf Verteidigung um.
Der Inder wehrt sich Zuletzt hatte er mit Aufzug des h-Bauern ein Luftloch geschaffen, um auf Schachgebote der gegnerischen Dame auf der eigenen Grundreihe ein sicheres Feld für den König zu finden. Aber auch Ding Liren scheint auf der Höhe zu sein. Der Chinese antwortet hier mit dem Königszug nach e1, um den eigenen König nach d2 zu bringen und den Turm auf c1 zu decken. Danach wäre der weiße Läufer auf c5 wieder beweglich.
Hier passierte etwas Überraschendes: Ding Liren zentralisiert zunächst seine Dame, was grundsätzlich erstrebenswert war. Stattdessen sollte der Chinese wie geplant den König zunächst nach d2 ziehen. Danach hätte es schlecht für den Inder ausgesehen.
Einen Zug nach dem Kontrollzug konnte hier Gukesh mit der Dame nach g2 ziehen und damit eine dreimalige Stellungswiederholung erzwingen. Dieses Szenario war bekannt aus der sechsten Runde in der Gukesh auswich, obwohl er objektiv etwas schlechter stand. Die Journalisten packten ihre Laptops ein und Maurice Ashley machte sich zu Fuß zur Pressekonferenz in ein anderes Gebäude auf. Aber Gukesh hat seinen eigenen Willen und wich ab. Erneut war dies objektiv nicht gerechtfertigt. Seine Fans fanden so viel Kampfgeist klasse und jubelten als die schwarze Dame auf a2 landete. Einige Züge später musste Gukesh dann doch in das Unentschieden einwilligen.
Der Moderator Maurice Ashley sorgte für Lacher mit der Bemerkung, dass ihn die Entscheidung von Gukesh, erneut weiter zu spielen, Haare auf dem Kopf gekostet habe. Die Trainer von Gukesh müssten knapp am Herzinfarkt gewesen sein, spekulierte Ashley. Die Einschätzungen der Spieler nach der Partie zeigten erneut eine grundsätzlich andere Herangehensweise an die Partien und das Match insgesamt. Ding wirkt auf Beobachter vor Ort meist unsicher. Gukesh hingegen versprüht einen jugendlichen Optimismus, dem es an etwas Objektivität zu fehlen scheint. Seine Unbekümmertheit ist gleichzeitig eine seiner größten Stärken in diesem Kampf um die Krone im Schach.
Heute habe ich während des Spiels nicht gemerkt, dass ich zu einem bestimmten Zeitpunkt auf Gewinn stand. Weltmeister Ding Liren nach der Partie.
Ich habe mich nicht für die dreifache Wiederholung entschieden, weil ich dachte, ich stehe besser. Jetzt, wo ich die Computervarianten sehe, habe ich natürlich eine andere Meinung. Herausforderer Gukesh nach der Partie.