Foto: Eng Chin An
Von Thorsten Cmiel
Weder Gukesh noch Ding Liren sind in dieser Phase des Matches bereit größere Risiken einzugehen. Die Partie endet nach präzisem Spiel beider Kontrahenten mit Remis. In der medialen Aufmerksamkeitsweltblase der Streamer, Youtuber und anderer Sternchen gibt es Kritik. Diesmal, weil nicht genug los ist in Singapur. Die Spieler dürfte das nicht interessieren. Sie wollen Schachweltmeister werden.
Ding erscheint genau zehn Minuten vor Beginn der Partie. Er hat gelernt immer zuerst im Spielsaal einzutreffen, gibt er später zu Protokoll. Diesmal ist er in Begleitung zweier Sekundanten. Neben Richard Rapport ist der chinesische Großmeister Ni Hua diesmal dabei. Nach dem Eintreffen in der Spielerzone folgt der tägliche Scanvorgang einer darauf spezialisierten Fachkraft. Die Wartezeit verbrachte der Weltmeister einige Minuten meditierend im Sonnenschein so wird berichtet und auch stille bewegte Bilder davon werden übertragen. Kurz drauf verlässt der Herausforderer Gukesh mit seinem Vater und seinem Cheftrainer Grzegorz Gajewski den Aufzug. Die Fotografin Maria Emelianova wartet jeden Tag, um die Szenerie einzufangen. Gajewski ist nicht immer dabei. Vielleicht ist es Zufall oder die Spannung steigt auch in den Teams, aber zwei Begleiter hatten die Spieler nur selten dabei.
Maurice Ashley, im Hauptberuf Schachgroßmeister und Boxansager verliest die lange Liste der Errungenschaften des Ehrengastes, dem Vorsitzenden des Sport in Singapur. Der führt den ersten Zug aus. Die Spieler und die Zuschauer interessiert das wenig. Da ist es kein Problem, dass heute die Übertragung der Ansage in den Zuschauerraum ausfällt. Etwas hört man doch und als die Namen der Spieler aufgerufen werden, gibt es Beifall. Immerhin.
Gukesh sitzt zu Beginn der Partie erneut vorgebeugt am Brett. Auf diesem ist scheinbar nicht viel los. Beide Spieler rochieren früh kurz. Strategisch betrachtet muss Schwarz zum Ausgleich nur noch sein verbliebenes Problem mit dem weißfeldrigen Läufer lösen. Es entsteht zunächst eine Art Tempokampf. Denkt man, dann nimmt Gukesh auf c4 und die Stellung bekommt den Charakter eines angenommenen Damengambits. So hatte Gukesh in der letzten Runde beim Kandidatenturnier in Toronto gegen Hikaru Nakamura ein solides Remis erzielt. Die Lage heute ist jedoch etwas anders.
Ist. 10…a6 ein guter Zug an dieser Stelle? Oder wie soll Schwarz das verbliebene Problem seines weißfeldrigen Läufer lösen? Beide Spieler sitzen mit dem Oberkörper vorgebeugt. Die Spannung ist zu spüren. Gukesh stützt seinen Kopf auf die rechte Hand. Ding hat die Hände zusammengefaltet und legt den Kopf in die aufgestützten Arme. Die Partie ist 23 Minuten im Gange und der der Chinese verlässt den Raum. Er geht Chillen, wie es neuerdings heißt. Entweder er ist überrascht vom Zögern seines Gegners an dieser Stelle oder er will einfach seinem Gegner nicht beim Grübeln zuschauen. Dabei ist es interessant den Herausforderer zu beobachten. Gukesh wechselt die Denkerpose, immer wieder. Mal stützt er den Kopf auf beide Arme und seltener lehnt er sich zurück in sein Sitzmöbel. Er verändert seine Sitzhaltung immer wieder.
Fotos: Eng Chin An (FIDE Chess)
In den Zuschauerraum kommt Bewegung. Eine halbe Stunde nach Beginn der Partie müssen die Zuschauer den abgedunkelten Raum verlassen, so können andere Fans das Szenario beobachten. Derweil denkt der Inder weiter, wie er im zehnten Zug fortsetzen soll. 26 Minuten dauert es insgesamt bis Gukesh seinen Springer an den Rand zieht, etwas was Schachspieler von Kindesbeinen an als schlechte Idee verkauft bekommen. Aber Schach ist auf dem Level von Supergroßmeistern längst kein Spiel mehr in dem man mit Eröffnungsweisheiten erfolgreich ist. Schach ist ein konkretes Spiel und der Herausforderer Gukesh gehört zu denjenigen, die meist besonders präzise rechnen, konkrete Probleme lösen. Der Springer befragt den Läufer und der muss reagieren oder wird eliminiert. Später in der Pressekonferenz wird der Inder zu Protokoll geben, dass er nach der Antwort des Chinesen, der zog seinen Läufer nach g5, erleichtert war. Gukesh konnte nicht genau einschätzen was passiert wäre wenn der Chinese seinen Läufer auf f4 belassen hätte. Sein Gegner fand das keine bemerkenswerte Idee und spielte solide weiter. Viele Figuren wurden in der Folge getauscht und so war die Zehnte überraschend schnell vorbei.
In der Zielgerade steigt der Einsatz
Jeder Fehler könnte fatale Folgen entfalten so kurz vor dem Ende. Das betonen beide Spieler später in der Pressekonferenz. Insofern sollte man den Spielern keinen Vorwurf machen, dass die Partien präziser und damit für Zuschauer weniger ereignisreich verlaufen. Klar würden auch die Journalisten vor Ort lieber über Ereignisse wie in der siebten und achten Partie berichten. Aber etwas früher Schluss zu machen hat auch Vorteile. Eine kleine deutsche Delegation landet bei peruanisch-chinesischer Küche und wir sind nicht begeistert vom Preis-Leistungsverhältnisses. Morgen hoffen wir dann wieder auf eine längere Partie und Essen in der Kantine des Kasinos.
Maschinengläubigkeit
Die Welt für den typischen Internetbeobachter stellt sich anders dar. Da zählt nur was die Instanz sagt. Zunächst sei eine starke Rechenmaschine und ihr Blick auf die Ereignisse in Singapur erwähnt. Diese hat scheinbar die Wahrheit gepachtet und bewaffnet jeden Beobachter mit Informationen, die den Spielern nicht zur Verfügung stehen. So merkt Ding Liren an, dass seine Sekundanten natürlich mehr über die Partie wissen als er und manchmal interessieren ihn spezielle Situationen, die er dann später abfragt. Beide Spieler sehen die Effizienz des Arbeitens mit dem Computer in dieser Phase des Matches, wollen aber das Spiel am Brett nicht gänzlich aufgeben. So berichtet Gukesh von Trainingspartien gegen seinen Coach, „Gaju“.
Das ist ein Screenshot der besten Maschine mit der sich Schachfans online bewaffnen können: LCZero. Die Pfeile sind erstmal etwas verwirrend, zeigen aber in welche Richtung die Berechnungen der Maschine laufen. Tatsächlich vermittelt die Grafik eine größere Komplexität als es in Wirklichkeit ist. Hier durften sich Journalisten Hoffnung auf ein Essen auf dem Festland machen. Denn dauert die Partie mehr als vier Stunden, bleibt für das Abendessen eigentlich nur die Kantine im Kasino.
Fällt die Partie etwas weniger ereignisreich aus wie heute, können die Fans sich einige alte Plakate, Trophäen und Schachsets anschauen. Die Ausstellung bei der Schacholympiade in Budapest war allerdings deutlich umfangreicher und informativer. Da könnte der Weltschachbund noch ordentlich besser werden.
Foto: Eng Chin An (FIDE Chess)
Zu den bemerkenswerten Ausführungen des 18-jährigen Inders gesellt sich ein weiteres Highlight, das zeigt wie reflektiert Gukesh die Schachwelt wahrnimmt. Tatsächlich hat eine Revolution der Möglichkeiten im Schach eingesetzt und der Zugang zu modernen Engines steht jedem offen. Das war in sowjetischen Zeiten nicht immer so und ein Grund für deren Dominanz vor allem in den 50er und 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts.
Schach wird immer mehr zu einem Sport. Alle haben die gleichen Ressourcen, und man muss den kleinen Vorteil finden, der einem hilft, sich abzuheben.
Gukesh über die Entwicklung des Schach
Er würde sich freuen zu hören, dass er ein Schachspieler ist.
Gukesh sorgt für Lacher. Sein Vater lacht mit.