Foto: Eng Chin An
Von Thorsten Cmiel
Die elfte Partie dürfte historisch sein für die Schachgeschichte. Der Inder Gukesh übernimmt im Match um die Schachkrone erstmals die Führung. Den Weltmeister Ding Liren bereits abzuschreiben wäre jedoch zu früh. In Astana war es dem Chinesen mehrfach gelungen sich neu zu erfinden. Aber die Zeit drängt drei Runden vor Schluss.
Die Spieler haben inzwischen Routine bei ihrem Einzug in die Spielzone. Erneut lassen sich Lirens zwei Sekundanten, Richard Rapport und Ni Hua, im Foyer der Spielarena sehen. Heute führen die Großmeister Hou Yifan und Eugenio Torre die ersten Züge aus. Die elfte Partie beginnt mit einem Paukenschlag in der Eröffnung, Ding Liren wird offenkundig auf dem falschen Fuß erwischt. Die wichtigsten Momente.
Alle Fotos von Maria Emelianova Chess.com (FIDE Chess)
Der 18-jährige Inder Gukesh setzt Ding direkt von Beginn an unter Druck. Der Weltmeister ist offensichtlich nicht auf das Blumenfeld-Gambit mit vertauschten Farben vorbereitet und investiert an dieser Stelle 38 Minuten seiner 120 Minuten für die ersten 40 Züge. Man fragt sich warum der Chinese im zweiten Zug nicht seinen e-Bauern nach e6 vorgeschoben hat, um eine solide Damengambit-Stellung anzustreben. Im Nachhinein kann man diese Entscheidung in der Tat diskutieren, gibt Ding später zu.
Es war eine sehr schwierige Partie für mich. Schon im vierten Zug war ich mir nicht sicher, ob ich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Ich erinnerte mich an eine Partie, die ich in einem Schnellturnier gegen Großmeister Adhiban gespielt hatte, aber ich konnte mich nicht an die anderen Züge erinnern. Ich habe 40 Minuten damit verbracht, irgendwelche unsinnigen Varianten zu berechnen.
Dem Weltmeister bleibt eine Bedenkzeit von 51 für seine verbliebenen 32 Züge und der Herausforderer hat bisher noch keine Minute seiner Bedenkzeit verbraucht. Allerdings sollte sich der Inder hier etwas mehr Zeit für seine Entscheidung nehmen. Mit dem Zug 9.c4-c5 stand ihm ein starker Zug zur Verfügung, um schnell auf b5 ein Schach mit dem Läufer folgen zu lassen und danach mit der kurzen Rochade fortzusetzen. Gukesh unterläuft hier also ein spieltaktischer Fehler, der vielen Schachspielern in ähnlichen Situationen bereits unterlaufen ist. Der Inder zieht zu schnell nach guter Vorbereitung und findet nicht in die Partie. Stattdessen sollte er sich erstmal tiefer in die Stellung eingraben. Zeit genug hatte er. Gukesh zog nach fünfeinhalb Minuten den Bauern nach d3. Leontxo Garcia, Schachjournalist von El Pais meinte dazu m. E. treffend, dass Kasparow keine Minute für den Zug 9.c4-c5 benötigt hätte.
Erfahrenen Spielern solcher Strukturen, wie sie aus dem Wolga- oder dem Blumenfeld-Gambit entstehen, ist intuitiv bekannt, dass man den Bauern auf a5 herausnehmen sollte, da b4-b5 ein positioneller Fehler ist. Schwarz bekommt das Feld c5 als Operationsbasis für seine Figuren. Gukesh spielte den Vormarsch mit dem b-Bauern nach 25 Sekunden, um nach der sofortigen Antwort seines Gegners, der zog seinen Springer von b8 nach d7, eine längere Denkpause einzulegen. Gukesh nahm sich eine Auszeit von einer vollen Stunde und fand immerhin die beste Aufstellung, er stand allerdings hier bereits leicht schlechter, statt komfortabel besser zwei Züge zuvor Das Geschehen auf der Uhr war ein wesentlicher Faktor in dieser Partie. Später gab Gukesh zu, dass er die Stellung ruiniert hatte und für längere Zeit gefühlt ums Überleben kämpfte, was objektiv bis zum 15. Zug stimmte.
Beide Spieler waren früh durch eine Krise gegangen und erneut schien es als habe der Chinese das bessere Ende für sich. Tatsächlich war die Sache nicht ganz einfach. Eine entscheidende Weggabelung erfolgte im 15. Zug. Hätte hier der Chinese sein Läufer nach d6 zu entwickeln versucht und mit 15…e6 begonnen, wäre die Verteidigung für Gukesh massiv erschwert gewesen.
Der Chinese entscheidet sich dafür, seinen Läufer nach g7 oder nach Vorbereitung sogar nach h6 zu entwickeln. Später nannte der Weltmeister das eine dumme Entscheidung. In der Tat, objektiv betrachtet sah die ganze Welt per Rechnerhilfe, dass Gukesh sehr schlecht gestanden hätte. In Schachbegriffen ausgedrückt wäre Schwarz im Vorteil gewesen. Für die Spieler fühlte sich die Situation lange Zeit anders an und das ist entscheidend für eine praktische Partie. Während Gukesh in der Folge immer noch um den Ausgleich kämpfte schätzte Ding Liren seine Stellung schon als deutlich schlechter für sich ein und verlor möglicherweise im weiteren Verlauf zu früh die Hoffnung.
In dieser Situation zieht Gukesh sehr stark seinen Bauern von a3 nach a4 vor. Seine Idee ist es, den starken Springer auf c5 wegzuschlagen und damit eine der stärksten gegnerischen Figuren zu eliminieren. Hiernach spürte der Herausforderer aus Indien erstmals Aufwind, auch wenn er sich wie sein Gegner über die Stellungseinschätzung längst nicht im Klaren war.
Ich habe nur versucht, einen Zug nach dem anderen zu machen und nicht sofort zu verlieren. Dann fand ich diesen Zug a4, der mir eine sehr wichtige Ressource gibt. (…) Danach habe ich gemerkt, dass ich nicht verliere, sah, dass ich einige Chancen hatte, und habe dann plötzlich die Partie gewonnen.
Gukesh in der Pressekonferenz nach der Partie.
Dieser Zug überdeckt prophylaktisch die Bauern b7 und e7. Prophylaktische Züge sind im Schach Züge, die Drohungen des Gegners vorwegnehmen sollen und gleichzeitig die eigene Figurenaufstellung verbessern. Drohungen sind hier jedoch gar nicht existent, da der Bauer auf b7 gar nicht angreifbar ist, vorerst. Umgangssprachlich könnte man formulieren, dass der Weltmeister hier Gespenster gesehen hat. In dieser Stellung war es richtig die Entwicklung einfach mit der Rochade abzuschließen und dann auf die Aktivitäten des Gegners zu reagieren.
Ding Liren dachte seine Stellung sei schon fast verloren. In solchen Momenten unterlaufen Schachspielern gelegentlich Flüchtigkeitsfehler und sie lassen nach in dem eigenen Bemühen sich bestens zu verteidigen. Es mag sein, dass eine solche Mischung zu der Nachlässigkeit des Chinesen führte. Der zog hier jedenfalls seinen e-Bauern von e7 nach e6. Stattdessen konnte der Weltmeister hier seinen Turm nach d6 ziehen und nach dem Springerzug nach c5 mit seinem Springer via a7 den gegnerischen Turm attackieren und auf b7 die Türme tauschen. Der Springer steht dann zwar auf b7 ungefährdet, findet aber nicht so recht zurück ins Spiel. Schwarz gelingt es danach genügend Gegenspiel zu entfalten.
Hier kam es zu einem Schockmoment. Gukesh hatte zuletzt in beiderseitig heraufziehender Zeitnot nicht den genauesten Weg zum Vorteil gefunden. In dieser Stellung musste der Chinese seinen Springer nach b4 ziehen und die b-Linie plombieren. Stattdessen folgte ein grober Fehler, der an ein ähnliches Ereignis zwischen Magnus Carlsen und Ding Liren einige Monate zuvor erinnerte. Ding zog seine Dame von c7 nach c8. Gukesh begriff sofort was passiert ist, beugt sich nach vorne und schlägt den Springer auf c6. Diesen kann Ding nicht zurück schlagen, da entweder der Turm auf b8 sofort hängt oder nach dem Damentausch als Intermezzo auf c6.
Sieg Gukesh. Sieg Indien.
Gukesh WINS 🔥🔥🔥#chess #gukesh #chessbaseindia pic.twitter.com/QXI0sdsLFc
— ChessBase India (@ChessbaseIndia) December 8, 2024
Gukesh, Gukesh, Gukesh
Nicht nur im Studio von Chessbase India in Mumbai brandet tosender Jubel auf und die Halle tobt. Direkt nach der Aufgabe jubeln in Singapur ebenfalls einige Dutzend Fans des Inders im Foyer des Equarius Hotels. Der Inder wird sich später für die Unterstützung bedanken und sagt die indischen Fans seien die Besten. Ob der Junge weiß, dass er auch andernorts viele Fans hat. Wir sehen einen globalen Sportsuperstar in the making.
Dieses Foto von Eng Chin An (FIDE Chess) entstand im Presseraum in gelockerter Atmosphäre..
Indische Show von Chessbase India
So wird Schach gefeiert und Chessbase India dokumentiert es.
Pressekonferenz
Die Veranstaltung ist zweigeteilt an diesem Tag. Zunächst erhält der Weltmeister die Möglichkeit Antworten zu geben und dann kommt ein gesonderter Teil für Gukesh. Das ist ein sensibler Umgang mit dem Weltmeister, der in der Nacht eine Niederlage verdauen muss und am Folgetag die zwölfte Partie zu bewältigen hat.
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