Titelfoto: Jurriaan Hoefsmit
Die Schlagzeilen beherrscht ein ehemaliger Weltmeister, der sich langweilt, rumnörgelt und anderen seinen Willen aufzwingen will. Gleichzeitig zeigt die junge Generation wie es wirklich um Schach steht. Hervorragend. Die Partien zwischen Nodirbek Abdusattorov und Gukesh sind längst moderne Klassiker zweier Gladiatoren, die Bock auf klassisches Schach haben.
Von Thorsten Cmiel
Die bislang wichtigste Partie der beiden Junggroßmeister fand vor etwa zweieinhalb Jahren statt. Gukesh hatte die weißen Steine. Gespielt wurde in Chennai 2022 bei der Schacholympiade. Dem Inder versagten die Nerven und sein Team verlor die Goldmedaille. Das B-Team Indien für das Gukesh, Pragg und Nihal Sarin antraten wurde Dritter und die Usbeken gewannen sensationell die Goldmedaille. Das ist die Kurzform.
Bei der Schacholympiade 2024 in Budapest gewannen bekanntlich diesmal die Inder und die Usbeken kamen auf den dritten Rang. Die Teams tauschten die Plätze. Gukesh und Nodirbek einigten sich in ihrer Partie Ende September nach 32 Zügen auf eine Punkteteilung durch Zugwiederholung. Die Partie verlief eher ereignislos. Gukesh überragte am Ende mit neun Punkten aus zehn Partien (Performance 3056) am ersten Brett. Abdusattorov musste elfmal ran und gewann die Silbermedaille mit ebenfalls neun Punkten (Performance 2884). Auf dem dritten Rang lag der Norweger Magnus Carlsen (Performance 2810), der die Siegerehrung schwänzte. Immerhin Carlsen war zur sechsten Runde auf dem Live-Youtube-Kanal von Chess24 zugeschaltet und kommentierte die Partie von Gukesh und Abdusattorov einige Minuten lang. Er lobte vor allem die Rechengewaltigkeit des Usbeken, der hatte am Tag zuvor gegen den Niederländer Jorden Van Foreest, einen ehemaligen Sekundanten von Carlsen, eine grandiose Rechenleistung hingelegt und war bei vollem Brett von b8 nach d5 in die Brettmitte marschiert, um eine Gewinnstellung zu reklamieren.
Die Partien der zwei Junggroßmeister in dieser Partie sind für Schachfans echte Highlights und beide profitieren von den harten Kämpfen den sie sich liefern. Bisher galt meist: Bei jedem Aufeinandertreffen spielen die beiden mit besseren Elozahlen gegeneinander als zuvor. Auch in diesem Jahr wurde niemand enttäuscht, der die Partie in der sechsten Runde verfolgte. Spannung und Dramatik sind möglich wenn zwei Spieler wollen.
Runde 6: Abdusattorov (UZB) – Gukesh (IND)
Es sind die unscheinbaren Randbauernzüge, die Gukesh zum Weltmeister gemacht haben. Kleine Nuancen entschieden über den Verlauf mancher Partien, die vom Team Gukesh unter der Leitung von Grzegorz Gajewski immer wieder ausgeheckt wurden. Erinnert sei an die Schwarzpartien des amtierenden Weltmeisters beim Kandidatenturnier gegen seinen Landsmann Vidit und den Azeri Nijat Abasov. Nodirbek kann das auch. Er hält diesmal dagegen mit seinem neuen Signature Zug, einem frühen a2-a4. Bereits zuvor in diesem Turnier hatte der Usbeke gegen den Inder Mendonca diesen Zug gespielt, allerdings in einer anderen Eröffnung. Der Erfinder ist der usbekische Toptrainer Rustam Kasimdzhanov, der inzwischen in Deutschland lebt und lange für Fabiano Caruana als Sekundant tätig war. Der Aufzug des a-Bauern ist oft ein typischer Zug im langsamen Italiener, nimmt dem Gegner Möglichkeiten am Damenflügel weg und droht selbst mit Expansion. Neu ist das frühe Konzept nur auf höchster Ebene. Immerhin können beispielsweise zwei Partien des starken tschechischen Großmeisters David Navara, der auch schon in Wijk dabei war, in der Datenbank gefunden werden. Schaut man im weiteren Verlauf nach, dann gab es die entstehenden Stellungen also schon häufiger, sogar auf höchster Ebene.
In dieser Situation muss Gukesh seinen achtzehnten Zug ausführen. Nodirbek hat zuletzt seinen Springer nach f1 gezogen und plant ganz offensichtlich seinen Springer nach h2 zu ziehen. Sollte dann der Läufer ziehen, käme die schwarze Dame auf h5 in Bedrängnis. Gukesh machte daher Platz für seine Dame und zog seinen Springer nach e7. Stattdessen hatte er an dieser Stelle eine sehr gute Möglichkeit und konnte seinen Springer nach f4 ziehen. Der darf nicht genommen werden, da Schwarz zu starken Angriff bekommt. Einen Springer nach vorne statt zurück zu ziehen ist oft ein Erfolg und hier konnte der Weltmeister mit etwas mehr Mut und der richtigen Eingebung etwa ausgleichen. Die Folgen sind freilich komplex und es bedürfte noch einiger Ausführungen das zu erläutern. Wer will kann in die Analyse unten in diesem Text schauen.
Hier verpasste Nodirbek eine gute Möglichkeit seine bis dahin einwandfreie Partieleistung weiter zu krönen. Er zog im Achtundzwanzigsten seine Dame nach a4 und gab dem Inder dadurch eine Chance, die dieser sich nicht entgehen ließ. Gukesh zog seinen Springer nach d8 und konsolidierte seine Stellung. Aber was war falsch am vorhergehenden Damenzug gewesen? Von b5 erfüllte die Dame zuvor eine wichtige Funktion. Sie fesselte den b-Bauern. Der konnte sich wegen seiner Deckungsfunktion für den Springer c6 nicht von der Stelle bewegen. Mit seinem Zug mit dem Springer drohte Gukesh also seinen b-Bauern zu ziehen. Dieser kleine Moment der Unaufmerksamkeit genügte dem Inder zum Ausgleich. Stattdessen sollte der Usbeke hier seinen Turm von f3 nach d3 ziehen und den Gegner vor schwierige Aufgaben stellen. Insbesondere der Bauer e5 könnte danach weiter unter Druck geraten. Sollte Schwarz dann beispielsweise wie in der Partie seinen Springer nach d8 ziehen, wird der weiße Springer nach f3 gestellt und der Bauer e5 attackiert – eine weitere Leistung einer Dame auf b5, den sie von a4 nicht mehr erfüllt. Versucht Schwarz dann das Problem durch eine Fesselung mit dem Läufer auf g4 zu lösen, nimmt Weiß trotzdem auf e5 zunächst mit der Dame und opfert eine Qualität. Weiß dominiert dann das Brett.
Gukesh steht vor seinem fünfundvierzigsten Zug. Er hatte sich zuvor für eine aktive Verteidigung entschieden und einen Bauern geopfert. Jetzt war er auf einen Trick angewiesen. Er plante mit einem Sidestep des Königs nach f8, den gegnerischen Turm zu attackieren und zwischenzeitlich einen weiteren Bauern zu opfern, um den gegnerischen Springer zu erobern. Die Idee konnte Schwarz auf zwei Arten realisieren. Er konnte entweder sofort seinen König nach f8 ziehen oder ein Zugpaar einschieben, indem er seinen Turm zunächst nach b3 zieht. Sein Gegner würde typischerweise seinen Königs nach g2 ziehen. Was es damit auf sich hat, ist schwierig zu verstehen und Gukesh konnte das Problem nach fünf Stunden intensivem Fight nicht lösen. Er entschied sich für den falschen Zug und zog sofort seinen König nach f8. Wer will kann anhand der Analysen den Unterschied herauszufinden versuchen. Wer es zunächst selbst herausfinden will, der sollte sich die Stellung genauer anschauen und jetzt mit dem Wissen des richtigen Zuges bewaffnet auf Spurensuche gehen.
In dieser Stellung war diesmal Weiß am Zuge. Die drei weißen Freibauern sind natürlich eine Macht gegen den Springer. Aber wie soll man die Partie konkret entscheiden? Nodirbek lässt an dieser Stelle für einen kurzen Moment nach, Gukesh ist erneut sofort da und rettet die lange Zeit verloren geglaubte Partie. „Push them baby“ ist eine Formulierung, die der US-amerikanische Schachgroßmeister und Moderator Yasser Seirawan gerne verwendet. Tatsächlich ist es oft ein guter Ratschlag seine Freibauern voran zu schicken, um die gegnerischen Kräfte mit Verteidigungsaufgaben zu beschäftigen, damit diese nicht anderweitig Ärger machen können. Der Ratschlag ist hier zumindest dann sinnvoll wenn die Freibauern nicht sofort verloren gehen oder der gegnerische Springer sie wirksamer blockieren kann. Hier war der Ratschlag jedenfalls goldrichtig. Aber man sollte loben wie Gukesh nach dem von Nodirbek gespielten Zug des Turmes nach e8 in der dargestellten Stellung seine Figuren koordiniert und das Remis sichert. Insgesamt sahen die Zuschauer eine hochklassige Partie wie sie wohl nur die besten Spieler der Welt zeigen können. Gladiatoren im Schach stellen ihre Gegner immer wieder vor neue Aufgaben und erst so passieren Fehler auf höchster Ebene, die andere dann mit Hilfe der Maschine entziffern können. es gibt noch einiges mehr zu entdecken in dieser Partie.
Nach der sechsten Runde führten weiterhin Praggnanandhaa (Jahrgang 2005) und Abudsattorov (2004) mit 4.5 Punkten (+3). Weltmeister Gukesh (2006) lag mit vier Punkten dahinter in Lauerstellung. Die Jugend übernimmt immer sichtbarer die Führung im Weltschach. Für die achte Runde sieht die Auslosung die Paarung zweier Jungs aus Chennai vor. Das wird für Schachfans ebenfalls ein Augenschmaus auf dem Brett. Ich garantiere es.
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Fotos: Lennart Ootes und Jurriaan Hoefsmit für Tata Steel Chess.