Foto: Maria Emelianova (Singapur 2024)
Von Thorsten Cmiel
Im Ecosystem des Schachsports erscheint immer wieder ein neuer Stern, der die Aufmerksamkeit der Welt auf sich zieht. Manche leuchten besonders hell. Einer dieser aufstrebenden Stars ist der junge indische Schachgroßmeister Dommaraju Gukesh. Mit seinen beeindruckenden Leistungen hat Gukesh nicht nur die indische Schachszene erobert, sondern insbesondere 2024 international für Aufsehen gesorgt. Sein nächstes großes Ziel ist der bevorstehende Weltmeisterschaftskampf in Singapur gegen den chinesischen Titelverteidiger Ding Liren.
Wer ist Gukesh?
Dommaraju Gukesh, so sein vollständiger Name, wurde am 29. Mai 2006 in Chennai, Indien, geboren. Als das Talent sichtbar wurde ging sein Vater, ein Arzt, mit seinem Sohn auf Reisen und förderte so die Karriere seines Sohnes. 2015 steht Gukesh als Candidate Master in den Titelbüchern und drei Jahre später war Gukesh bereits Internationaler Meister. Im Jahr 2019 folgte der Titel eines Großmeisters und war zu diesem Zeitpunkt der zweitjüngste Spieler, dem dies gelang. Mit seinen überragenden Rechenkünsten hat er sich schnell als Topgroßmeister etabliert und 2024 seinen endgültigen Durchbruch im Spitzenschach geschafft.
Der eigene Weg – zunächst Verzicht auf Computerunterstützung
Auf Anraten seines langjährigen Trainers Vishnu Prassana verzichtete der Jungmeister lange Zeit auf den Einsatz von Computern und Schachengines bei der Vorbereitung und Analyse. Diese heutzutage eher ungewöhnliche Herangehensweise stärkte letztlich seine Rechenfähigkeiten und förderte seine Kreativität bei der Suche nach eigenen Lösungen. Gukesh gilt als der rechenstärkste Großmeister seiner Generation. Zudem hat diese Methode den positiven Nebeneffekt erzielt, dass Gukesh seinen Rechenfähigkeiten scheinbar uneingeschränkt vertraut. Selbstbewusstsein.
Rituale
In der Leichtathletik können die Zuschauer am Fernseher beobachten wie sich die Sportler auf anstehende Wettbewerbe innerlich vorbereiten. Die Sportlerinnen oder Sportler gehen dann häufig einen Hürden-Lauf oder Hochsprung beispielsweise vor dem geistigen Auge durch. Das gilt ebenfalls für Slalom-Skifahrer, die sich auf die Wendungen im anstehenden Rennen vorbereiten. Bei vielen Schachspielern ist das ähnlich, wobei hier natürlich die anstehenden Wendungen in einer Partie nicht vorweg genommen werden können. Viele Schachspieler folgen einem Ritual, um sich auf die Partie einzustimmen.
Bei der Schacholympiade in Budapest 2024 konnte man bei Gukesh jeden Tag den gleichen Ablauf beobachten: Nach der obligatorischen Kontrolle am Eingang, die inzwischen an Flughafenkontrollen erinnern, stürmte Gukesh zu seinem Brett. Er hatte offensichtlich keine Lust auf Smalltalk mit seinen Kolleginnen und Kollegen vor den Partien. Er war fokussiert auf die anstehende Partie. Ein Videofilmer von Chessbase India folgte Gukesh jeden Tag mit einem Abstand von ein bis zwei Metern und hatte Probleme dem Tempo von Gukesh zu folgen. Einmal am Brett begann der Inder sein tägliches Ritual, das man bei ihm vor jeder Partie beobachten kann. In Toronto hatte ich es vor jeder Runde beobachtet. Mit verschränkten Armen sitzt der Youngster am Brett, schließt die Augen, fokussiert sich auf die anstehende Aufgabe, vermutlich ist es eine Form der Meditation, die man vor den Partien bei Gukesh beobachten kann.
Sobald die Partie beginnt gibt es den obligatorischen Handschlag für den Gegner und dann kommen die vorbereiteten Züge auf das Brett. Mit dann offenen Augen spielt er seine Partien und steht eher selten vom Brett auf. Steht Gukesh länger sieht es meist gut für ihn aus. Nach einem längeren Endspiel gegen den Aseri Nijat Abasov beim Kandidatenturnier in Toronto beispielsweise beobachteten einige Zuschauer, dass Gukesh aufstand und sich reckte. In Jugendsprache, er „flexte“. Ein vermutlich unbewusstes Signal an den Gegner, dass die Sache entschieden ist.
Auch zum Partieende folgt ein Ritual. Zunächst unterschreibt er wie alle Spieler es müssen die Partieformulare, die dann von einem Schiedsrichter im Original eingesammelt werden. Der Inder falltet seinen Durchschlag akurat und steckt ihn ein. Danach bringt Gukesh das Brett in Ordnung. Er baut die Figuren auf, was nicht jeder Schachspieler macht und was auch nicht vorgeschrieben ist. Danach folgen eingespielte Handbewegungen und ein Tippen an die Stirn sowie auf den Schachtisch. Ein indischer Geschäftsmann und Sponsor von Gukesh bezeichnet das in Toronto im Gespräch als eine Respektsbekundung für das Spiel. Das scheint eine gute Interpretation zu sein.
Spielstil
Gukeshs Weg zur Spitze war von zahlreichen Erfolgen und einem stetigen Spielstärkeaufwuchs geprägt. Er war einer der aktivsten Spieler auf der Tour und nahm an vielen internationalen Open-Turnieren teil. Das war eine Notwendigkeit, um finanzielle Mittel zu generieren und weil Einladungen für Rundenturniere nicht reinkamen. Das stählt. Der Inder ist in der Regel nicht auf den schnellen Punkt aus, sondern er lernte durch Vermeiden von eigenen Fehlern viele Punkte einzusammeln. Insofern ist sein Spielstil vergleichbar mit dem von Spielern wie Magnus Carlsen oder Anatoly Karpov, um ganz oben ins Regal der Vergleiche zu greifen.
Supportsystem
Ich habe kein besonders ausgeprägtes Privatleben. Ich meine, mein ganzes Leben dreht sich um Schach. Um alles andere kümmern sich meine Eltern und mein Team. Mein einziger Job ist es, Schach zu spielen, das ist also ganz nett.
Gukesh in Singapur vor dem Match.
Gukesh wird gecoacht von dem 1985 geborenen polnischen Großmeister Grzegorz Gajewski. Die beiden arbeiten seit fast zwei Jahren zusammen. Das engere Team Gukesh scheint zu harmonieren. Spieler und Trainer wirken introvertiert, ruhig und bedächtig, aber wenn es um Schach geht, dann erwacht sofort die Leidenschaft und beide werden gesprächig. Der zweite Mann und ständige Reisebegleiter des jungen Inders kennt ihn schon etwas länger. Sein Vater, Rajini Kanth. Rajini ist Chirurg und hat seine Karriere aufgeben, um die Karriere seines einzigen Sohnes zu fördern. Während Gukesh meist viel Ruhe ausstrahlt, kann sein Vater die Nervosität kaum ablegen. Während der Pressekonferenz zum Auftakt folgten Gajewski und Rajini dem Geschehen: aufmerksam und vor allem ruhig, noch.
Zum Team Gukesh gehört genau so seine Mutter, Padma. Sie ist Mikrobiologin und ist vor allem als Organisatorin zuständig. Gukesh und sein Vater waren die letzten Jahre oft längere Zeit unterwegs und die Familie kam nur eine Woche im Monat zusammen. Diese Entbehrungen, die offenbar nötig sind, um es in der Schachwelt ganz nach oben zu schaffen, zählen jetzt nicht mehr. Jetzt ist die Familie am Ziel. Gukesh spielt um die Weltmeisterschaft. Das ultimative Ziel ist nah.
Der bevorstehende WM Kampf in Singapur
Der Schach-Weltmeisterschaftskampf in Singapur wird mit klassischer Bedenkzeit ausgetragen und nicht nur in Indien herbeigesehnt. Für Gukesh ist dies seine erste Gelegenheit erneut echte Schachhistorie zu schreiben. Bei seinem Sieg im Kandidatenturnier in Toronto überzeugte der siebzehnjährige Inder bereits das Fachpublikum und bei der Schacholympiade in Budapest erzielte Gukesh eines der besten Einzelergebnisse der Schachgeschichte. Mit neun Punkten aus zehn Partien gewann Gukesh nicht nur ein individuelle Goldmedaille wie zwei Jahre zuvor am ersten Brett. Diesmal blieb der Youngster ungeschlagen und konnte mit dem Chinesen Wei Yi und dem US-Amerikaner Fabiano Caruana zwei schachliche Schwergewichte besiegen. Gukesh geht als die Nummer Fünf in der Welt ins Rennen um den WM-Titel.
Vorbereitung
In Vorbereitung auf den Kampf in Singapur absolviert Gukesh wie vor dem Kandidatenturnier in Toronto ein intensives Trainingsprogramm mit seinem Team. Er arbeitet mit einigen erfahrenen Spieler zusammen. Das Team ist im Vorfeld der Weltmeisterschaft natürlich nicht bekannt, man will dem gegnerischen Team keine wertvollen Informationen geben. Lediglich war sein Headcoach Grzegorz Gajewski gesetzt. In einem Interview im Vorfeld der Weltmeisterschaft sagte Gukesh: “Was mein Team betrifft, kann ich sagen, dass Gajewski mein Trainer für das Match sein wird, aber darüber hinaus kann ich nicht viel verraten.“ In solchen Trainingscamps wird nicht nur Schach gespielt und Eröffnungsvorbereitung betrieben. Von Gukesh ist bekannt, dass er mit Gajewski gerne und regelmäßig Tennis spielt.
Matchstrategie
Es ist nicht zu erwarten, dass Gukesh seine sehr geduldige Spielstrategie ändert und übermäßig aggressiv zu Werke geht. Das würde auch nicht zu seiner Person passen. Gukesh ist für sein Alter bereits ein sehr reflektierter junger Mann, der in Interviews seine Worte mit Bedacht wählt. Gukesh liest gerne Sportlerbiographien und sucht so bei anderen erfolgreichen Sportlern Inspirationen. Im Vorfeld wurde jetzt bekannt, dass Gukesh mit einem Mental-Coach zusammengearbeitet hat, der vor allem indische Cricketsportler gecoacht hat. In einem Interview mit Sagar Shah für Chessbase India erfährt man mehr über den geborenen Südafrikaner Paddy Upton. Er erläutert seinen Zugang zu einem Spiel, das neu für ihn war. Schach unterscheidet sich laut Upton aus seiner Sicht von den anderen 19 Sportarten in denen er vorher Leistungssportler gecoacht hat. Schach findet nur im Gehirn statt, anders als bei anderen Sportarten bei denen es letztlich um körperliche Fähigkeiten geht. Homepage Paddy Upton
Favoritenrolle für den Herausforderer
Dommaraju Gukesh überzeugte nicht nur beim Kandidatenturnier in Toronto, sondern ebenfalls im September 2024 am ersten Brett des indischen Teams bei der Schacholympiade in Budapest. Seine herausragende Leistung unterstrich seine gute Form im Vorfeld des bevorstehenden WM-Kampfes in Singapur. Gukesh gewann nicht nur individuelles Gold am ersten Brett, sondern die indische Mannschaft gewann souverän das wichtigste Teamevent im Schach. Aber Gukesh hat bereits mehrfach in Interviews erwähnt, dass er sich nicht auf einen Gegner außer Form vorbereitet, sondern einen starken Gegner erwartet.
Es wird ein Massaker.
Arjun Erigaisi, indischer Schachgroßmeister.
Es gibt nur zwei vernünftige Vorhersagen. Es wird knapp oder Gukesh wird mit deutlichem Vorsprung gewinnen. Die meisten haben auf beide Möglichkeiten gesetzt. Ich werde nicht feige sein und sage einen klaren Sieg mit +2 oder +3 für Gukesh voraus, der sich nie wie ein Wettkampf anfühlt. Ich erwarte auch, dass Ding nach dem Spiel zurücktritt, falls er verliert. Es ist traurig zu sehen, wie ein Mann so sehr darum kämpft, dass seine Träume wahr werden.
Jacob Aagaard, dänischer Schachgroßmeister, Trainer und Verleger.
Wie groß ist der Druck, der auf dem Teenager lastet?
Gefragt nach dem Druck vor dem Wettkampf sagte Gukesh: Es ist immer ein Privileg, für Indien auf so hohem Niveau zu spielen, und ich genieße diese Erfahrung. Ich denke, dass ich mit Druck vor allem durch Erfahrung umgehen kann. Ich habe schon in vielen Situationen mit hohem Druck gespielt, wenn auch nicht bei einer Weltmeisterschaft, natürlich. Aber ich freue mich auf die neue Erfahrung.
Quelle: Take Take Take via Youtube.
Pressekonferenz vor dem Match
Gukesh zeigte sich glücklich in Singapur zu sein, zumal er einen WM-Kampf herbeisehne, seit er mit dem Schachspielen begonnen hat. Er habe alle Chancen der Welt, wenn er weiterhin gutes Schach spiele und in jeder Partie die beste Version seiner selbst zeige.
„Ich bin sicherlich etwas nervös, aber ich fühle mich gut dabei. Der einzige Gedanke, den ich habe, ist, mein Bestes zu geben und zu sehen, was passiert. Es ist eine Ehre und ein Privileg für mich, für Indien bei irgendeiner Veranstaltung zu spielen, besonders bei einer Veranstaltung wie der Olympiade oder der Weltmeisterschaft. Es ist ein so großes Ereignis, mein Land zu vertreten und die Hoffnungen der Inder zu tragen: Das ist eine Ehre für mich. Ich nehme das sehr ernst. Ich werde gegen Ding Liren antreten, der seit mehr als einem Jahrzehnt zu den besten Spielern der Welt gehört.