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Sieben Jahre in Wünsdorf

Rustem Dautov, Sergei Kalinitschew und Manfred Kuhle (stehend).

Die Sowjetarmee unterhielt an ihrem DDR-Hauptquartier eine Schachgruppe, aus der lauter Großmeister hervorgingen. Rustem Dautov erinnert sich.

Aufgezeichnet von Stefan Löffler

„In der Sowjetunion brauchten Studenten gewöhnlich nicht zum Militär. Wenn man eine Vorladung bekam, ignorierte man sie und wurde in Ruhe gelassen. Aber bei mir waren sie hartnäckig. In Ufa, meiner Heimatstadt, hatte ich schon ein Jahr studiert, und dachte, dass ich um den Militärdienst herumkomme, als sie begannen, mich zu suchen. Ich habe mich versteckt, aber sie fanden mich und schickten mich in ein Ausbildungslager. Ich dachte, ich hätte sinnlos zwei Jahre verloren. Nach einigen Wochen verstand ich, dass ich wegen des Schachs eingezogen wurde. Dass es einen Befehl von oben gab.

Nach zwei Monaten militärischer Ausbildung wurde ich 1984 in der DDR stationiert. Ich war 18. Uniform brauchte ich nur in der Anfangszeit tragen, als ich noch ein einfacher Soldat war. Meine Aufgabe war, Schach zu spielen. Jeder Erfolg brachte unserem Armee-Sportklub Punkte in einem internen Vergleich. Ich gehörte zur Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland. Ihr Hauptquartier war in Wünsdorf, vierzig Kilometer südlich von Berlin.

Abgesehen davon, dass man viele Uniformen sah, war es fast wie eine normale Stadt. 50 000 Menschen lebten da: Soldaten, Zivilisten, die für die Armee arbeiteten, und ihre Familien. Es gab Schulen, einen Bahnhof, von dem täglich ein Zug nach Moskau fuhr, und Geschäfte. Dort war fast alles im Angebot, was auch DDR-Bürger kaufen konnten. Wenn wir etwas Spezielles brauchten, fuhren wir nach Zossen oder Berlin. Das Kantinenessen war immer gut. Versorgungsprobleme, wie ich sie aus der Sowjetunion kannte, gab es in Wünsdorf nicht. Die Stadt war sehr grün – voller Kiefern und umgeben von Wäldern. Später, als ich schon Unteroffizier war und mehr Freiheiten hatte, ging ich dort oft Pilze und Beeren sammeln. Aus den nahen Seen angelte ich Karpfen, oft bei Mondschein in lauen Sommernächten.

Während der ersten zwei Jahre Militärdienst wohnte ich mit den anderen Soldaten in der Kaserne, danach wurde mir eine kleine Wohnung angeboten. Natürlich habe ich nach zwei Jahren verlängert und wurde ohne Umstände zum Unteroffizier befördert. Für einen Schachspieler war es ein Traum. Ich hatte alles, was ich zum Leben brauchte, konnte zu Turnieren fahren und mit starken Spielern trainieren. Was ich in Wünsdorf lernte, davon lebe ich beim Schach bis heute.

Unsere Gruppe wurde immer stärker. Als ich kam, waren Waleri Tschechow und Sergei Kalinitschew schon da. Als nächstes stieß Andrei Kowaljew dazu, dann Wladimir Tschutschelow und Konstantin Asejew. Kostja wurde mein wichtigster Trainingspartner. Seine Systeme spiele ich immer noch. Auch Georgi Timoschenko und Ildar Ibragimow waren einige Zeit in Wünsdorf, aber sie kehrten nach ihrem Militärdienst in die Sowjetunion zurück. Wir anderen blieben, solange wir konnten.

Wir verstanden uns alle großartig miteinander. Wir waren wirklich Freunde. Waleri war gut zehn Jahre älter und als einziger bereits Großmeister. Alle anderen holten sich den Titel später. Waleri war Offizier, Sergei Zivilist. Beide hatten Frau und Kind. Auch Konstantin und Andrei waren Zivilisten. Uniform brauchten aber auch wir von der Armee nicht zu tragen. Selbst bei Armee-Turnieren nicht. Das waren die wichtigsten. Sie fanden in der Sowjetunion statt, Mannschaft und einzeln getrennt. Mehrmals wurden wir Zweiter bei der Mannschaftsmeisterschaft der bewaffneten Streitkräfte der Sowjetunion. Und bei der letzten Austragung 1989 in Leningrad wurden wir Erster.

Gut erinnere ich mich an 1986. Die Mannschaftsmeisterschaft fand in Nowosibirsk statt. Wir nahmen den Zug nach Moskau, eine gemütliche Fahrt von ungefähr 24 Stunden, und von dort weiter mit dem Flugzeug. In dem Jahr war die Einzelmeisterschaft in Kaliningrad, dem alten Königsberg. Ich wurde Erster, aber richtig freuen konnte ich mich nicht, denn das Ende des Turniers fiel mit dem Reaktorunfall in Tschernobyl zusammen. In der Sowjetunion wurde das völlig verharmlost. Alle hatten Angst, dass die Wolke mit dem Fallout zu uns kommt, aber letztlich blieben wir auf der Rückreise und in Wünsdorf verschont.

Dort hatten wir ein angenehmes Leben. Am Anfang wurde ich noch zum Putzen eingeteilt, später als Unteroffizier kaum noch. Wir trafen uns jeden Tag zum Schachtraining im Haus der Offiziere, einem riesigen Palast in der Mitte der Garnison. Der Schachraum war im zweiten Stock. Computer spielten noch keine Rolle. Wir analysierten mit Brett und Figuren. Unsere Bibliothek war nicht besonders groß, aber gut sortiert. Am wichtigsten waren die Schachinformatoren aus Jugoslawien. Aus der Sowjetunion hatten wir Eröffnungsbücher und alle Schachzeitschriften. Auch die Zeitschrift Schach aus Berlin.

Opens gab es im Osten damals kaum. Gelegentlich wurden wir zu Turnieren in der DDR oder in den sozialistischen Bruderstaaten eingeladen. Als ich in Kécskemet eine GM-Norm erspielte, bekam ich auch ein nennenswertes Preisgeld, mit dem ich etwas anfangen konnte. Mannschaftskämpfe spielten wir für Dynamo Potsdam. Es hieß DDR-Liga, war aber die zweite Liga unter der Oberliga. Wir sind nie aufgestiegen, und das war wohl auch gewünscht so, denn in der Oberliga spielten keine Ausländer. Nach der Wende wechselten wir zu Empor Berlin.

Dass die Sowjetunion aufgelöst wird, war abzusehen. Dass Russland später Georgien und die Ukraine überfällt, konnte sich wohl keiner von uns vorstellen. Damals mussten wir unsere eigene Zukunft regeln. Bis Ende 1991 hätten wir in Wünsdorf wohnen bleiben dürfen. Sergei und Waleri kehrten nach Moskau zurück, Kostja nach St. Petersburg und Andrei nach Minsk. Wladimir zog es nach Belgien. Mir besorgte Bernhard Schewe Anfang 1991 eine kleine Wohnung in Berlin. Statt Miete zu zahlen spielte ich fast umsonst für Empor Berlin. Ich war allerdings kaum da, reiste von Open zu Open. Ich lernte Petra kennen, die später meine Frau wurde, und zog noch im gleichen Jahr zu ihr nach Hessen.

Nach Wünsdorf bin ich nie wieder zurückgekehrt, aber ich habe gelesen, dass die Gebäude bröckeln und die alte Garnison verfällt. Oft wird erwähnt, die Stadt sei für DDR-Bürger verboten gewesen. Aber das stimmt nicht, zumindest wurde es nicht kontrolliert. Manfred Kuhle, unser Mannschaftsführer aus Potsdam, kam uns ein paar Mal besuchen. Auch Bernhard Schewe aus Berlin. Von einer Bunkerstadt mit geheimen Anlagen wussten wir damals nichts. Dieser Teil ist einige Kilometer von unserem Standort entfernt.

Außer mir sind alle Schachtrainer geworden. Sergei ist nach seiner Scheidung aus Moskau nach Berlin gezogen. Kostja bekam Krebs und wurde nur 44. Ob Waleri noch arbeitet, weiß ich nicht, aber bei Andrei in Belarus bin ich mir sicher. Den größten Erfolg hatte Wladimir. Als Trainer ist er international gefragt. Er war nicht der stärkste Spieler von uns, aber er hat sein Talent entdeckt, andere zu unterstützen. Seine bekanntesten Schüler heißen Anish Giri und Fabiano Caruana.“

Rustem Dautov wurde deutscher Staatsbürger und trat von 1996 bis 2005 für die Nationalmannschaft an. Turnierschach spielt er nur noch für die Schachfreunde Deizisau. Er lebt im Westerwald.

Wikipedia Eintrag über Rustem Dautov.


Über den Schachkalender

Der Schachkalender ist ein Unikat der Schachpublizistik. Alljährlich vor Weihnachten bringt er eine Vielzahl an Themen und Beiträgen, wie sie sonst nicht selten zu finden sind. In der aktuellen Ausgabe beispielsweise eine ausführliche Bilanz der Zäsur, die das Nazi-Regime für das Wiener Schach bedeutet hat: vor 1938 ein Zentrums des internationalen Schachs, nach 1945 tiefste Provinz. Oder, um in Wien zu bleiben, eine Kurzgeschichte von Anatol Vitouch. Oder ein Porträt des stärksten Italieners des 19. Jahrhunderts Serafino Dubois, das nebenbei mit dem Mythos aufräumt, 1575 habe in Madrid das erste internationale Schachturnier stattgefunden. Es handelt sich mit höchster Wahrscheinlichkeit um eine Erfindung italienischer Autoren. Eine Sammlung über Karl-Heinz Podzielny von Thorsten Cmiel erinnert an einen der stärksten Blitzspieler Deutschlands. 2024 wäre Podzielny, Podz-Blitz 70 Jahre alt geworden.

Ins Leben gerufen hat den Schachkalender der Berliner Schachverleger und Händler Arno Nickel. Nach vierzig Ausgaben hat er sich zurückgezogen. Die Redaktion hat der Journalist Stefan Löffler übernommen, das Layout der Berliner Designer Wolf Bōese. So viel Platz wie früher gibt es nicht mehr für eigene Einträge. Dafür sind der Sound und das Erscheinungsbild jünger und kantiger geworden. Um neue Leser zu gewinnen, wurde auch der Preis von 17,50 Euro auf 14 Euro gesenkt. 


Als Leseprobe hat Löffler Chessecosystem ein wenig bekanntes Stück deutscher Schachgeschichte zur Verfügung gestellt: Erinnerungen des früheren Nationalspielers Rustem Dautov (Jahrgang 1965) an die Schachgruppe der Roten Armee in der DDR, die südlich von Berlin in einer Garnisonsstadt stationiert war.  

 

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